Überlieferung und Werk
Unter dem Namen Niune führt die Kleine Heidelberger Liederhandschrift (A) einen Leich und sechzig Liedstrophen. Das Korpus, das die Manessische Liederhandschrift (C) unter Her Nu̍nu̍ tradiert, ist mit dem Leich und den ersten sieben jener Strophen deutlich kleiner.
Fast alle der Lieder sind in anderen Handschriften anderen Dichtern zugeschrieben. Für AC Niune betrifft dies Rudolf von Rotenburg (A Niune 1 et al.) mit einem Minneleich, den Kol von Niunzen (A Niune 2f. et al.) mit einem pastourellenhaften Werbedialog und erneut Rudolf von Rotenburg mit einer Minneklage (A Niune 4–8 et al.).
Die Heterogenität, die sich hier in Bezug auf Texttypen und Autorzuschreibungen andeutet, setzt sich in den Zusatzstrophen unter A Niune fort. Mit Parallelüberlieferungen zu Leuthold von Seven (A Niune 9f. et al.) und Wachsmut von Künzingen (A Niune 11–14 et al.) sowie einer unikal in A unter Niune überlieferten Strophe (A Niune 15) folgen zunächst drei Minneklagen aufeinander.
Nach einem Dialoglied A Niune 14–16 et al., das sich in C in das Korpus Ulrichs von Singenberg fügt, schließen erneut einige unikal in A unter Niune überlieferte Lieder an, nämlich die Strophe A Niune 21, in der ein vermutlich weibliches Ich seine Freude gegen seine sorge abmisst, eine Minneklage A Niune 22f. und eine Frauenstrophe mit Tageliedelementen A Niune 24. Mit dem Preislied A Niune 25–29 et al. betreffen die Parallelüberlieferungen Ulrich von Liechtenstein und Heinrich von Veldeke, mit dem Tagelied A Niune 30–32 et al. Otto von Botenlauben und den Codex Buranus, mit dem Wächtertagelied A Niune 33–35 et al. den Markgrafen von Hohenburg.
Es folgt wieder ein kurzer Block an Minneklagen: Die Klagerede an die Minne A Niune 36f. et al. ist in C Alram von Gresten zugeschrieben, genau wie die Frauenstrophe in Langversen A Niune 39 et al. Dazwischen fügt sich mit A Niune 38 et al. die Strophe einer Minneklage, die BC dreistrophig unter Rudolf von Fenis-Neuenburg tradiert.
Mit Walther von der Vogelweide verbunden sind A Niune 40–42 et al. und die Strophe A Niune 43 et al., in der ein Ich die natürliche Schönheit von Frauen lobt. A Niune 40–42 et al. ist ein Textbündel: A Niune führt im Vergleich zum Walther-Kontext eine eigenständige Version. Unter Walther stehen drei Strophen inhaltlich je für sich, zwei davon sind sangspruchartig. Die Niune-Version kann man als dreistrophiges Lied auffassen, dessen Str. II und III Sommer und Winter als Zeit der Liebe gegeneinander abwägen, während die erste, unikal unter Niune überlieferte Strophe ein Walther-Zitat ist: Sie nimmt eng Bezug auf C Walther 145 et al. (Wil aber iemen wesen fro).
Die unikal überlieferte Strophe A Niune 43 et al., in der ein Ich seine Beständigkeit beteuert, leitet über zur Minneklage A Niune 45f. et al., einer Reinmar-Parallelüberlieferung.
Das unikal unter Niune tradierte Frauenlied A Niune 47 mit seiner dominierenden Naturbildlichkeit spielt mit Darstellungsmodi, die aus dem sogenannten frühen Minnesang bekannt sind. Mit A Niune 48 et al. liegt eine Strophe vor, die hier und in C unter Rubin und (?) Rüedeger als Einzelstrophe steht, während sie später in c Teil eines mehrstrophigen Neidhart-Lieds ist. Nach einem Kreuzlied A Niune 49–51 et al., das BC unter Albrecht von Johansdorf führt, schließt sich mit dem Winterlied A Niune 52–58 et al. erneut eine Neidhart-Parallelüberlieferung an.
Das Korpus schließt mit der Parallelüberlieferung eines eher untpischen Reinmar-Lieds: dem Freudelied mit Sommer-Natureingang A Niune 59–61 et al.
Insgesamt zeigt sich ein kaleidoskopartiger Wechsel von Liedtypen, Sprechrollen und Sprechmodi. Mit Spielarten wie Klage- und Freudeausdruck, männlichem Ich-Lied, Frauenlied und Dialoglied, poetisierendem, gnomischem, didaktischem, obszönem Gestus, Walther-Zitat und Neidhart-Liedtyp, Kreuzlied und Tagelied, mit Langversstrophe und Kanzonenform gibt das Korpus einen denkbar vielfältigen Einblick in die Möglichkeiten lyrischen Sprechens über Minne.