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Der Wilde Alexander, ›Syon, trure‹
J WAlex 28
IJ WAlex 28 = KLD 1 IV 1
Überlieferung: Jena, ThULB, Ms. El. f. 101, fol. 24rb
J WAlex 29
IIJ WAlex 29 = KLD 1 IV 2
Überlieferung: Jena, ThULB, Ms. El. f. 101, fol. 24vb

Kommentar

Überlieferung und Form: Die Form der nur in J erhaltenen Doppelstrophe folgt relativ streng dem komplexen Schema:

2-a 2-a 2-a 4b / 2-c 2-c 2-c 4b // 4-d 2e 2e 4-f / 4-d 2g 2g 4-f // 4h .2h 4i / 4j .2j 4i // .2-k 2-k / 2l 3l

Gelegentlich gibt es Tonbeugungen, in den Versen 9, 12f. und 16 schwanken die Strophen zwischen vier- und dreihebigen Versen (letztere mit Auftakt). Auffällig sind zum einen die kurzen Verszeilen, zum anderen die Doppelungen innerhalb des Schemas: Jeder Teil wird genau einmal wiederholt, wobei – mit Ausnahme des letzten Paares – die zusammengehörigen Teile durch Reime zusätzlich verschränkt sind. Die Formationen ähneln dadurch den Doppelversikeln der Leichdichtung, nicht zuletzt auch dem Leich des Wilden Alexander, in dem ebenfalls sehr kurze Verszeilen dominieren. Die makroskopische Struktur aus 8+8+9 erinnert an die Kanzonenstrophe, ohne dass aber deren Schema streng umgesetzt würde (die ersten und die zweiten acht Verszeilen haben ein verschiedenes metrisches und Reimschema). Eine gewisse Dynamik erhält die Langstrophe dadurch, dass die paarigen Teile im Strophenverlauf immer kürzer werden (4+4, 4+4, 3+3, 2+2), auch verlieren sich gegen Ende die längeren, vierhebigen Verse, sodass der Strophenschluss auch formal klar markiert ist.

Musik: Die Melodienotation in J ist unvollständig und umfasst nur V. 1–16; die übrigen Notensysteme sind leer geblieben. Auffällig ist das elftönige Melisma gleich zu Beginn, das nicht nur im Korpus des Wilden Alexander eine Besonderheit darstellt. Die melodische Analyse gestaltet sich wegen der unvollständigen Überlieferung schwierig. Die Melodie steht offenbar im hypoionischen Modus und folgt dem Bau des Textes, indem sie die Doppelung der einzelnen Teile durch melodische Wiederholung nachmacht. Außerdem wird das jeweils innere Verspaar der vierzeiligen Gruppen durch melodische Variation (2f., 6f.) bzw. Transposition (V. 10f., 14f.) verbunden.

α β β’ γ / α β β’ γ // δ ε ε’ ζ / δ ε ε’ ζ

Inhalt und Genre: Strophe I bietet einen religiös-allegorischen Mahnruf, der zu erheblichen Teilen aus biblischen Versatzstücken besteht (Ps 2,1 und 117,22, Is 28,16f. und 62,6, Za 9,9, Mt 21,42 und 26,40f., Mc 14,37f., Act 4,11, Eph 2,20, 1 Pt 2,4–8, Apc 20,11; vgl. Cramer, S. 188 und Müller, S. 158). Die Vieldeutigkeit seiner einzelnen Momente (Sion, Unwetter, tobendes Volk, schlafende Wächter, König, Heer, Tod) macht eine präzise Übersetzung in ein eigentlich Gemeintes unmöglich bzw. hält die Strophe offen für verschiedene exegetische Zugriffe; den Versuchen der älteren Forschung, sie dennoch auf einen exakten Sinn festzulegen, haftet damit etwas Beliebiges an.

Strophe 2, eine Minneklage über die Trennung von der Geliebten, ist von der ersten Strophe thematisch weit abgesetzt. Mit der thematischen Differenz einher geht ein Wechsel der Sprecherrolle von einem in dritter Person erzählenden (I) hin zu einem in erster Person erlebenden Ich (II) und ein je verschiedener Umgang mit den formalen Vorgaben: Während Strophe I die Kürze der Verszeilen syntaktisch nachbildet und damit ihren Aussagen den Gestus des Getragenen verleiht, sind die Perioden in Strophe II meist länger und, gegenläufig zur zerhackten Versform, gleichsam prosaisch, indem sie Metrum und Reim syntaktisch überspielen. Verbunden sind die Strophen, abgesehen von der identischen Form, durch die strenge Konzentration auf konventionelle, stark abstrahierte Aussagen. Weder der Mahnruf noch die Minneklage sind in irgendeiner inhaltlichen Weise charakteristisch oder individualisiert, die allegorischen Ingredienzien in Strophe I sind genauso Gemeingut wie der Gegensatz zwischen Minneleid und Mainatur oder der Trennungsschmerz in Strophe II. Eine eigentliche Parallelisierung der geistlichen und der weltlichen Thematik findet aber nicht statt, sodass – ähnlich wie bei den Strophengruppierungen im Spruchton des Wilden Alexander – fraglich bleiben muss, ob es sich bei der Doppelstrophe um ein Lied oder doch um zwei Sprüche handelt.

Florian Kragl

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