Über den Dichter Hartwig von Raute (Rute? Route?) ist praktisch nichts bekannt. Der Name begegnet in bayerischen und oberösterreichischen Urkunden des mittleren 12. Jahrhunderts. Aus literarhistorischen Gründen (siehe unten) geht man allerdings gemeinhin davon aus, dass es sich beim Dichter allenfalls um einen Verwandten, vielleicht den Sohn handeln könnte. Das (mehr oder minder identische) Autorbild in B und C lässt erkennen, dass auch die Produzenten der Handschriften Schwierigkeiten hatten, den Sänger historisch-biographisch einzuordnen.
Die Miniatur in B (pag. 112) ist überschrieben mit der Rubrik .Hs. hArTWIG. RAVTE. Im oberen Drittel ist links das Wappen, rechts der Helm zu sehen. Das Wappen zeigt ein rotes Kreuz, die vier vom Kreuz gebildeten Felder sind in schwarz-gelbem Schachbrettmuster gehalten. Auf dem roten Helm ist als Zimier ein schneckenförmig gekringeltes Steinbockhorn aus abwechselnd schwarzen und gelben Knorpeln angebracht. Die unteren beiden Drittel zeigen den Sänger sitzend auf einer gelb-schwarzen Kastenbank im roten Mantel, auf dem Haupt ein roter Kranz. Rechts neben dem Sänger steht eine kleinere Figur im kurzen grünen Kleid, wohl ein Bote. Die linke Hand des Sängers liegt auf dem Kopf der kleineren Figur, die rechte Hand des Sängers ist erhoben und blutüberströmt (?) – möglicherweise holt der Sänger zur Ohrfeige aus, wobei das Blut deren Folge antizipierte (vgl. die Miniatur in C). Die kleinere Figur hält ein Spruchband, das sich über den rechten und den oberen Rand des Bildsegments hinzieht, der Körper der kleineren Figur ist vom Sänger abgewandt, als wollte sie sich nach rechts entfernen. Das (mutmaßliche) Botenmotiv dürfte vom ersten Lied des Korpus angeregt sein, die Ohrfeige will der Maler wohl als Memorialhilfe verstanden wissen.
Auf der nachfolgenden Seite beginnt das Korpus, das aus lediglich sieben Strophen besteht und sich über nicht mehr als zwei Seiten erstreckt (pag. 113f.). Es ist einsortiert zwischen die Korpora von Ulrich von Munegiur und Ulrich von Singenberg.
Die Miniatur in C (fol. 248v) entspricht jener in B. Überschrieben ist sie (und damit das Korpus) mit der Rubrik von Raute. Die Abweichungen der Miniatur gegen B sind spärlich: Der Helm ist nun golden, die Knorpeln des Zimiers abwechselnd blau und golden. Die Bank ist prächtiger gestaltet in den Farben goldgelb und rotbraun, sie scheint auf einem grünen Sockel zu ruhen. Links vom Sänger im blau-roten Gewand steht ein Schwert in schwarzer Scheide. Die linke Hand des Sängers ist auf sein linkes Knie gestützt, die rechte liegt auf dem Mund der kleineren Figur, unterhalb der Hand Blutstropfen; das Bild dürfte also die besagte Ohrfeige (bzw., treffender, Maulschelle) illustrieren. Die kleinere Figur im nun roten Kleid trägt einen Dolch oder ein Schwert im Gürtel, ihr Bewegungsimpuls hin zum rechten Bildrand ist in C deutlicher ausgeprägt.
C beherbergt auf der folgenden Seite (fol. 249r) dieselben sieben Strophen wie B in derselben Reihenfolge, sie füllen in C nur etwas mehr als eine Spalte. Die Vorschrift im linken oberen Eck der Textseite ist vō Raute. Das Korpus steht zwischen den Korpora Bliggers von Steinach und des von Munegiur, es befindet sich im Grundstock-Untersegment B1, geschrieben ist es vom Grundstock-Hauptschreiber As. Nennenswerte Varianz des Wortlauts zwischen B und C gibt es praktisch nicht, die Aufschriften müssen auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen. Irritierend ist die Kombination der Korpusstrophen 5 und 6 zu einem Liedverbund in C (siehe unten), die vor dem Hintergrund des sonstigen Usus der Handschrift vergleichsweise sorglos anmutet.
Die wenigen sieben Strophen fallen ausnahmslos in den Bereich des ›Hohen Sangs‹, loten aber verschiedene motivische Unterbezirke aus. B 1–3 et al. bietet eine Minneklage, getrieben vom Motiv der Fernliebe und dem Kontrast von Ritter- und Frauendienst, was man als Anspielung auf die Kriegszugs- oder Kreuzzugsproblematik verstehen kann, aber nicht verstehen muss; die Gnade der Dame gilt mehr als die Gnade Gottes. B 4 et al. wägt in gnomischer Kürze den Dienst für den Kaiser gegen den Dienst für die Dame ab, die Entscheidung fällt zu Gunsten des letzteren. B 5 et al. formuliert das Prinzip des ›Hohen Sangs‹: Minneklage, vorsichtige Werbung, Rolle des Gesangs; B 6 et al. blickt, wenn auch im Irrealis, hoffnungsvoll auf die Fortsetzung des Dienstes; B 7 et al. skizziert die Nötigungsphantasie eines Minnetoren, auch diese natürlich im Irrealis.
Auffallend ist der Hang zur Einzelstrophe. Nur die ersten drei Korpusstrophen sind zum Lied verbunden; es ist zugleich der einzige Text, der möglicherweise romanischen Einfluss verrät. Die vierte Korpusstrophe entspricht formal dem Aufgesang dieses dreistrophigen Liedes, man hat daher in älteren Ausgaben erwogen, ob sie Fragment einer vierten Strophe sein könnte. Die Korpusstrophen 5 und 6 wiederum, deren erste Verse einander formal ähneln, sind in C zu einem Lied verbunden, was insofern verblüfft, als die erheblichen formalen Differenzen im späteren Strophenverlauf von der sonst so formsensiblen C-Werkstatt offenbar nicht gesehen werden wollten. Thematisch ließen sich – gegen die formale Gestalt – die Inhalte und Motive der Korpusstrophen 1–4 einerseits sowie 5–7 andererseits ohne viel Aufhebens zu einem je größeren Ganzen zusammensehen, das dann den argumentativen Verläufen der ›klassischen‹ Minnelieder um und nach 1200 vergleichbar wäre.
Stilistisch schwanken die Lieder zwischen primitiven Tendenzen wie der Vorliebe für wiederkehrende Wörter und Formulierungen einerseits und artistischen Spielereien, vor allem mit langen und komplexen Satzperioden, andererseits.
Auch formal fällt ins Auge, dass das Œuvre teils zur Simplizität, teils zu Experimenten neigt. Schlicht wirken die gelegentlich unreinen Reime, mehrsilbige Auftakte oder Unregelmäßigkeiten des Metrums. Ungewöhnlich ist dagegen die Vielfalt des Strophenbaus: Neben drei Tönen mit Kanzonenstrophe (Korpusstrophen 1–3, 5 und 7) gibt es einen rätselhaften kreuzgereimten Vierzeiler (Korpustrophe 4; entspricht wie gesagt dem Aufgesang von 1–3) und eine geradezu fahrige Reienstrophe (Korpusstrophe 6). Bei den Kanzonen sprechen Durchreimung (Korpusstrophen 1–3) sowie das Spiel mit Kreuzreimstrukturen (Korpusstrophe 7) für gesuchte Artifizialität, desgleichen die im Minnesang seltene Länge einer Strophe von 15 Versen (Korpusstrophe 5).
Die Literaturgeschichte hat dieses mehrfache Dazwischen – Verzicht auf und Unsicherheiten der Strophenbindung neben dem konventionell-dreistrophigen Lied; Splitterhaftigkeit der Motive, die aber nirgends individualisiert erscheinen; lexikalische Sparsamkeit neben ausladender Syntax; Nonchalance des Reims und des Metrums in bunter Strophenvielfalt – zum Anlass genommen, Hartwig von Raute zwischen dem frühen, ›Donauländischen‹ Minnesang und dem stärker geregelten ›Rheinischen‹ Sang einzusortieren. In stilistischer und thematischer Hinsicht ist an dieser Positionierung nicht zu rütteln. Ob sich indes daraus auch eine reale literarhistorische Einordnung errechnet, steht dahin.
Florian Kragl
Incipit | Hs. | Strophen | Editionen |
C | 1 2 3 | MF 116,1 | |
B | 1 2 3 | MF 116,1 | |
C | 4 | MF 116,22 | |
B | 4 | MF 116,22 | |
C | 5 6 | MF 117,1 | |
C | 5 | MF 117,1 | |
B | 5 | MF 117,1 | |
C | 6 | MF 117,14 | |
B | 6 | MF 117,14 | |
C | 7 | MF 117,26 | |
B | 7 | MF 117,26 |