Auch wenn bezüglich der Identifikation keine Gewissheit zu erlangen ist, spricht einiges dafür, den im Codex Manesse als Der von Wildonie (Bl. 201r) bezeichneten Minnesänger mit Herrand von Wildonie gleichzusetzen, unter dessen Namen das Ambraser Heldenbuch (Wien, ÖNB, Cod. Ser. nova 2663, Bl. 217r–220v) vier Verserzählungen überliefert, die jeweils im letzten Verspaar mit einer Autorsignatur versehen sind. Wahrscheinlich handelt es sich bei ihm um Herrand II. von Wildonie (vgl. ausführlich Kummer; zudem Curschmann, Sp. 1144; Händl, S. 339; Hofmeister, S. 79; Kraus, S. 635f.; Zapf, Sp. 679f.; hingegen betont Bumke, S. 63, dass eine sichere Identifikation nicht möglich ist; denkbar wäre eventuell auch sein Sohn Herrand III.). Die Herren von Wildon/Wildonie waren eine bedeutende steirische Ministerialenfamilie, die seit 1173 in Wildon an der Mur (südlich von Graz) ansässig war. Herrand II., der das Amt des Truchsessen von Steier bekleidete, ist zwischen 1248 und 1278 urkundlich gut belegt (vgl. Hagen, Bd. 4, S. 294–301, und Kummer, S. 232–255). Seit Ende der 1250er Jahre war er mit Perchta verheiratet, der Tochter Ulrichs von Liechtenstein; seinem Schwiegervater könnte er die Anregung zu literarischer Tätigkeit verdankt haben. Mit Ulrichs Sippe teilten die Herren von Wildon/Wildonie die politischen Tendenzen. In den Wirren des Interregnums spielte Herrand zusammen mit Ulrich eine wichtige Rolle in der österreichischen Landespolitik; beide versuchten, die Selbständigkeit des steierischen Adels zu wahren. Sie standen zunächst auf der Seite Belas von Ungarn, unterstützten ab 1260 Ottokar von Böhmen und liefen spätestens 1276 zu Rudolf von Habsburg über. 1268 wurden Herrand, Ulrich und weitere steierische Ministeriale von Ottokar des Hochverrats bezichtigt, was Herrand sechs Monate Kerkerhaft und den Verlust dreier Burgen eintrug. Entsprechend setzte er sich nach 1276 für die Vertreibung der böhmischen Truppen aus der Steiermark ein. Seine Burg Eppenstein befreite er eigenhändig, auch hatte er Anteil am Sieg in der Schlacht auf dem Marchfeld am 26. August 1278, bei der Ottokar starb und in deren Folge die Habsburger unter Rudolfs Führung endgültig die Oberhand über die böhmischen Přemysliden erlangten.
Von Herrands Leben und seinen politischen Aktivitäten berichten nicht nur zahlreiche Urkunden; einige Episoden, vor allem die Anklage wegen Hochverrats und Herrands Verdienste um die Befreiung der Steiermark, sind auch in die Steierische Reimchronik Ottokars von der Gaal eingegangen (V. 5939–5968, 9853–10010 und 14060–14088). Als Minnesänger erscheint ein edel herre[] [...] von [...] Wildonie im ›Renner‹ Hugos von Trimberg (V. 1186) in prominenter Gesellschaft (unter anderem Gottfried von Neifen, Heinrich von Morungen, Otto von Botenlauben und Walther von der Vogelweide).
Die Miniatur im Codex Manesse, vom Grundstock-Maler stammend, zeigt den von Wildonie zu Pferd, hinter ihm ein Begleiter, vor ihm eine Burg. Er überreicht einer Dame, die sich ihm von der Zinne aus erwartungsvoll entgegenbeugt, einen Brief. Belebt ist die Szene durch Mimik und Gestik der Figuren sowie das Verhalten des Pferdes, das am Stiefel des Wildoniers zu knabbern scheint. Der Bildtypus weist den von Wildonie als werbenden Minnesänger aus (vgl. Walther, S. 136). Die beiden männlichen Figuren tragen Kugelhauben und sind mit Armbrüsten bewaffnet, was »unritterlich« wirkt und »sonst nur bei Angehörigen niederer Stände vor[kommt]« (Walther, S. 136; vgl. dazu auch Bumke, S. 68f., Anm. 137; freilich könnten die Armbrüste auch Jagdwaffen sein). Beide tragen jedoch auch ein Schwert und damit ein ritterliches Standesattribut. Das in drei silberne (jetzt schwarze) und drei blaue Streifen geteilte Wappen sowie die schwanenhalsförmige, mit den Wappentinkturen belegte und mit sechs Pfauenfedern geschmückte Helmzier entsprechen nicht dem tatsächlichen Wappen der Herren von Wildon (Wappenmotiv: Seeblatt, Tingierung: Weiß und Grün).
Von dem von Wildonie sind drei je dreistrophige Lieder erhalten, die unikal in C überliefert sind (Bl. 201r: Text der drei Lieder, der Rest der Seite und die folgende Seite sind leer). Er teilt sich mit dem von Suonegge (Bl. 202v–203r), dem von Scharfenberg (Bl. 204r/v) und Herrn Konrad, Schenk von Landeck (Bl. 205r–209v), die XIX. Lage des Codex, die vom Grundstockschreiber AS herrührt und einem nicht genau datierbaren Untersegment des sogenannten Grundstocksegments B zuzurechnen ist (vgl. Henkes-Zin, S. 35 und 44).
Das Lied C Wildon 7–9 ist ein Nachtrag (siehe Liedkommentar), der aber vom Grundstockschreiber AS vorgenommen wurde. Neben dem Freiraum auf Bl. 201v und der leeren Folgeseite legen es die Einrichtung des Überhangs der neunten Strophe sowie das nicht ausgeführte Überhangszeichen nahe, dass der Schreiber noch mit weiteren Strophen des von Wildonie rechnete.
Anders als Herrands Verserzählungen haben seine drei dreistrophigen Minnelieder in der Forschung nur wenig Aufmerksamkeit erfahren – wohl, weil sie von eher »konventioneller Machart« (Curschmann, Sp. 1145) sind und sich »eng an die hochhöf[ische] Minnesangproduktion an[schließen]« (Händl, S. 339). Alle drei Lieder sind Hohe-Minne-Kanzonen, und in allen drei Fällen handelt es sich um Jahreszeitenlieder mit Natureingang.
Die ältere Forschung hat verschiedentlich darauf hingewiesen, dass Herrands Werke von den Dichtungen Ulrichs von Liechtenstein beeinflusst sind (vgl. ausführlich Schröder vorwiegend mit Blick auf die Verserzählungen, zu den Liedern passim; vgl. auch Kummer, S. 99–101, und Kracher, S. 52f.). Zudem wurden Anklänge an Walther von der Vogelweide, Gottfried von Neifen und andere festgestellt (vgl. vor allem Kummer, S. 97–99, Ergänzungen bei Hofmeister, S. 88, 95 und 102) bzw. Einwirkung der Lieder des von Wildonie auf andere Dichter konstatiert (vgl. Kummer, S. 101–103: vor allem Konrad von Landeck und Brunwart von Augheim). Zwingend ist freilich keiner dieser Bezüge (so auch schon Thomas, S. 35).
Christoph Schanze
Incipit | Hs. | Strophen | Editionen |
C | 1 2 3 | KLD 66 I | |
C | 4 5 6 | KLD 66 II | |
C | 7 8 9 | KLD 66 III |