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Rudolf von Rotenburg, ›Ich tete gerne schin grôssen pin‹ (C Rotenb 5 = KLD 49 Leich V)
C Rotenb 5
C Rotenb 5= KLD 49 Leich V
Überlieferung: Heidelberg, UB, cpg 848, fol. 56rb
A
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B
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D
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A
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H1
K
K

Kommentar

Überlieferung: unikal in C.

Form: Vgl. Leichschema.

Der, seiner Länge nach, schier monströse Leich setzt sich aus einer, auf den ersten Blick, unübersichtlichen Folge von meist sehr kleinen Versikeln bzw. Versikelgruppen zusammen, die einen insgesamt chaotischen und ungeordneten Eindruck vermitteln. Dies war wohl auch ausschlaggebend dafür, dass größere Teile dieses Leichs für unecht erklärt worden sind; KLD schneidet jene flirrenden Kleingruppenpartien heraus, die diesen Eindruck am intensivsten speisen, und gibt dem Leich damit eine unauffällige, überwiegend additive Architektur. Konkret betrifft dies die Gruppen der Versikel EE1FGHH1IJKLT, also V. 25–167 sowie 269–312. (H)H1H1 und KK, die in diesen ›unechten‹ Partien vorkommen, werden in KLD nur als Schlussgruppen für ›echt‹ erkannt. (von Kraus ediert freilich auch die ›unechten‹ Abschnitte, weist deren prekären Status aber in der Versikelzählung aus.) Auch Kuhn, S. 122 betrachtet den Leich als problematisch und enthält sich einer Analyse.

Durch die KLD-Athetesen kommt der Leich um jenes Prinzip, das man, der Überlieferung nach, für charakteristisch erkennen müsste und das sich im Übrigen mit architektonischen Phänomenen auch anderer Leiche Rudolfs von Rotenburg verbinden lässt: jenes einer ludischen Struktur. Der Leich spielt und bricht immer wieder sowohl mit der Idee strenger Wiederholung als auch mit jener klar abzugrenzender Versikelgruppen. Er reizt damit Gesetzmäßigkeiten und Regeln aus, die für das Genre Leich konstitutiv sind, ohne aber dass es zu einem generellen Kollaps der formalen Gestaltung käme. Insofern dieses ludische Moment die gesamte Komposition von Leich V durchzieht und auch in anderen Leichen des Rotenburgers begegnet, greift eine Taxierung als Überlieferungsproblem oder redaktionelle Verunstaltung wahrscheinlich zu kurz.

Die Idee strenger Wiederholung bewahrt der Leich insofern, als die unmittelbaren Versikelfolgen (etwa AA, FF, JJ etc.) überwiegend paarige Wiederholungen ausbilden. Auch großflächigere Wiederholungen sind teils streng gehalten, namentlich bei der Eingangspartie AA bis DD, die präzise (zur Frage D/D1 siehe unten) wiederholt wird (V. 1–24); vgl. aber auch die Gruppen zu Versikeltyp E/E1 (V. 25–40) oder G (V. 57–84 sowie 285–312) und die Folge II bis CC (V. 128–143). Im weiteren Verlauf des Leichs allerdings kommt es mehrfach zur Bildung von Großgruppen, deren Wiederholungen ein größeres oder kleineres Maß an Variation aufweisen. Darunter fallen etwa die Varianz zwischen FF FF GG FF (V. 41–56) und FF FF F1F1 GG (V. 85–100) oder jene der Passage zwischen MM und Q (V. 168–220; die Wiederholung hat einen überzähligen P-Versikel). Auch die Gliederung des Leichs in Großabschnitte ist nicht frei von diesem Prinzip variierender Wiederholung: Die von KLD für ›unecht‹ erkannte rasche Folge kleiner Gruppen begegnet zweimal (V. 25–100, 269–312), ist im zweiten Durchgang aber wesentlich kürzer und auch intern leicht anders strukturiert (z. B. durch den Versikeltyp T). Dasselbe gilt für die Partie H/H1 bis K, die beim ersten Durchgang durch die zweite Versikelgruppe H1 sowie II bis CC und L (insgesamt: V. 101–167) wesentlich länger ausfällt als in der Schlusspartie, die im Vergleich dazu streng reduziert erscheint: H1H1 KK (V. 313–340). Stegartig isoliert bleibt im Leich lediglich die Abfolge RR RR SS SS (V. 221–268).

Die Makrostruktur des Leichs ließe sich auf Basis dieser Wiederholungsphänomene mit folgender Formel beschreiben: I1I2 (V. 1–12, 13–24), II (V. 25–100), III (V. 101–167), IV1IV2 (V. 168–191, 192–220), V (V. 221–268), II1 (V. 269–312), III1 (V. 313–340). Man könnte von einer Da-capo-Form sprechen.

Die klare Abgrenzbarkeit von Versikelgruppen wird im Leich davon unterlaufen, dass er, nach den metrischen Wiederholungsstrukturen zu schließen, mit Versikeltypen sehr unterschiedlicher Länge operiert, wobei die längeren Versikel cum grano salis als Addition der kurzen Versikel begriffen werden können.

Folgende Versikelarten finden Verwendung: (1) einversige Versikel, meist in Form von Kurzversen (BCIJN), einmal auch als Langvers (O); (2) zweiversige Versikel aus Kurzversen (DE1GM); (3) zweiversige Versikel aus Kurzversen, deren erster einen Binnenreim aufweist (AEFF1); (4) als Variation davon Versikel T, dessen Zeilenfall unsicher ist (Binnenreim?); (5) Großversikel aus mehreren, überwiegend kurzen und paargereimten Versen (HH1KLPQRS). Die Kürze vieler Versikel und die Kürze der meisten Verszeilen lässt die Typen oft unspezifisch erscheinen, sodass die Übergänge zwischen diesen Kategorien fließend sind, vgl. etwa konkret Versikel E1, der reimtechnisch in Gruppe (2) fällt, metrisch aber Versikel E (Gruppe 3) gleicht.

Die kurzen Versikeltypen können nicht nur als Bausteine der Großversikel (Gruppe 5) begriffen werden; sie sind in einigen Partien des Leichs auch veritabel zu solchen kombiniert. Der Fall ist dies bei II JJ CC CC (zweimal: V. 128–143), die in ihrer Summe eine artverwandte, sogar durch Reim verbundene Gruppe zu den Großversikeln H/H1 bzw. K und L ergeben; dasselbe ließe sich für MM bis OO (zweimal: V. 168–177, 192–201) behaupten. Der Unterschied liegt aber darin, dass H/H1 bzw. K und L asymmetrisch sind dergestalt, dass sie nicht restlos in sich wiederholende Abschnitte geteilt werden können.

Auf die Spitze getrieben wird dieses Spiel mit der Granularität der wiederholten Gruppen durch das zweimalige Inserat von Versikel Q, das, bei Annahme eines strengen paarigen Wiederholungsprinzips, analytisch darauf führte, die Strecken V. 168–191 sowie 192–220 zu zwei (fast: PP gegen PPP!) baugleichen Riesenversikeln zu verbinden, die den denkbar schärfsten Kontrast bilden zu Versikeln à la Typ I mit nur einer (!) Hebung.

In rätselhafter Opposition zu diesen, wie man annehmen möchte, raffinierten strukturellen Experimenten steht die Formgebung auf Versebene. Vergleichsweise unproblematisch erscheint dabei noch die Frage der Binnenreime, die sich durch Kadenztausch (F zu F1) oder metrische Baugleichheit von Versikeln mit und ohne Binnenreim (E und E1) einigermaßen klären lässt (Ausnahme ist Versikeltyp T). Die metrische Füllung der Verse sowie die Auftaktgestaltung werden hingegen sehr frei gehandhabt, ohne dass erkennbar wäre, ob diese Probleme (extreme Fälle wären etwa V. 250, 252 oder 284) überlieferungsbedingt (vielleicht waren Schreiber mit der komplexen und überlangen Bauform überfordert?) oder originär (das Holpern der Verse als Analogon der Strukturexperimente?) sind; KLD behebt sie mit großem Engagement (die Operationen sind im Apparat nicht verzeichnet).

Metrisch verblüffend ist darüber hinaus die Kadenzproblematik D vs. D1 sowie H vs. H1: Der jeweils erste Vers von Versikel D sowie die jeweils ersten vier Verse von Versikel H kadenzieren männlich-zweisilbig, während die entsprechenden Verse von D1 und H1 weiblich bzw. zweisilbig-klingend kadenzieren. Ist dies ein Phänomen von Variation, oder regiert hier (bereits?) ein rein akzentuierendes Prinzip, wie wir es aus der neuhochdeutschen Metrik kennen? Dagegen spricht, dass in den Versikeln GLST einsilbig- und zweisilbig-männliche Kadenzen äquivalent sind, wenn auch teils (möglicherweise) in Binnenreimposition.

Inhalt: Minneleich. Die Länge des Textes lässt es illusorisch erscheinen, die Gedankenfolge auch nur annähernd nachzuzeichnen; insofern der Leich durch die Bank topische Motive und Argumente der Hohen Minne aufgreift und reiteriert, ist der Verlust freilich gering. Die oben formanalytisch entwickelte Gliederung in Großgruppen mag dazu dienen, die Verteilung der thematischen Schwerpunkte über den Leich anzudeuten. Dabei ist stets im Blick zu behalten, dass es sich um nicht mehr als Gewichtungen handelt und die Interferenzen erheblich sind.

I1I2 (V. 1–12, 13–24): Das Ich stellt eine Präsentation seines Schmerzes in Aussicht. Sodann wird die Grundkonstellation der Hohen Minne entwickelt: Gesang, Ansehen, stetes Streben etc.; zuletzt erst wird die Motivation benannt: eine Frau.

II (V. 25–100): Ausführlich bespricht der Sänger seine Bindung an diese Frau nach verschiedenen Kategorien: hôher muot (als Effekt dieser Bindung), Dienst, Frauenpreis (ihre Wirkung auf ihn und die Welt), Leid. Seine sinne drohen ihn aufgrund der Exzellenz der Geliebten in unmäßigen Dienst und in Leid zu treiben.

III (V. 101–167): Die Reflexionen von Abschnitt II werden fortgesetzt: Hoffnung, Macht der Minne, Heimlichkeit des Dienstes; nun mit optimistischerem Schluss: Freude (im Möglichkeitssinn) und hôher muot schließen den Kreis dieser beiden Abschnitte.

IV1IV2 (V. 168–191, 192–220): Der Sänger wechselt für die erste Hälfte des Abschnitts die Sprechhaltung und spendet eine allgemeine Minnelehre, es geht um das rechte Verhalten des Mannes (3. Person) unter dem Banner der hôhen minne (vgl. V. 172). Die zweite Hälfte setzt als Kontrast gegen die allgemeine Minnelehre die leidvolle, latent verzweifelte, ›individuelle‹ Erfahrung des Sängers (1. Person, wie auch in den anderen Abschnitten).

V (V. 221–268): Je zwei literarische Anspielungen unterstreichen zuerst die herausragende Minne des Sängers, dann die unübertreffliche Schönheit seiner Geliebten. Thematisiert werden in chiastischem Argumentationsmuster die Tödlichkeit der Minne (Guraze; ihre Schönheit, die jene todbringende Helenas übertrifft) sowie die Exzellenz seines Dienstes (diensteifriger als Gawein) und ihrer Schönheit (schöner als Göttinnen).

II1 (V. 269–312): Die Da-capo-artigen Schlusspartien greifen Themen und Inhalte auf, die in ihren Geschwisterabschnitten bereits begegnen oder dort vorbereitet sind. II1 legt den Schwerpunkt auf die Bindung an diese eine Dame und auf die Gefährdung der Minne durch Merkaere und Huote. Wieder werden literarische (?) Vergleichsfiguren bemüht (Cligès, Aljenor).

III1 (V. 313–340): In rascher Folge wird im Finale des Leichs mithilfe von bereits zur Genüge traktierten Ideologemen (Hoffnung, Gesang, Leid, Konsequenz des Dienstes, stetes Bemühen) noch einmal das Prinzip Hohe Minne gefeiert.

Florian Kragl

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