Autor
Der Dichter entstammt dem Geschlecht der Grafen von Neuenburg (Neuchâtel), einem hohen Adelshaus, das sich nach dem Burgsitz Vinelz (frz. Fenis) im Kanton Bern, Verwaltungskreis Seeland, nannte. Aufgrund sprachlich-stilistischer sowie inhaltlicher Eigenheiten der Lieder, die möglicherweise in den Minnesang vor Heinrich von Morungen, Reinmar und Walther zeigen, identifiziert man den Dichter heute mit Rudolf II., der 1158–1192 urkundet und spätestens 1196 verstorben sein dürfte. Jüngere Träger des Namens aus dem 13. Jahrhundert werden nicht mehr ernsthaft in Betracht gezogen. Auch dass Rudolf von Fenis bei Reinmar von Brennenberg (KLD 44 IV,13) und beim Marner (XIV,18) Erwähnung findet, also im 13. Jahrhundert einen kanonischen Rang besetzt, plausibilisiert die frühe Datierung. In jedem Fall gegeben und für die Lieder von hoher Relevanz ist, dass Rudolf – sowohl als Dichter als auch als Graf – auf der Schnittstelle von romanischem und deutschem Gebiet siedelte.
Überlieferung
Rudolf von Fenis werden 44 Strophen in B (19) und C (25) zugeschrieben. Alle 19 B-Strophen finden sich auch in derselben Reihenfolge und an derselben Position (nämlich am Anfang) im C-Korpus, sie bilden sechs Lieder (im Folgenden: I–VI). Lied III und V teilen sich denselben Ton und wurden teils für ein einziges Lied angesehen; in MF/MT sind aus diesem Grund die Lieder IV und V vertauscht, um die tongleichen Stücke III und V (bzw. in MF/MT: III und IV) unmittelbar aufeinander folgen zu lassen. Nur C bringt nach diesen sechs Liedern sechs weitere Strophen in zwei Liedern (VII und VIII). Die Streuüberlierung ist spärlich: Die erste Strophe von Lied IV ist in A unter Niune (Strophe 38) erhalten; die Strophen von Lied VIII, das in B fehlt, finden sich in E unter Walther (Strophen 187–191) als die drei Mittelstrophen eines fünfstrophigen Liedes, dessen erste beiden Strophen wiederum auch von f anonym überliefert werden (f Namenl/101r). Alles zusammengenommen, errechnet sich daraus eine Masse von 27 verschiedenen Strophen bzw. 52 überlieferten Strophen insgesamt.
In B firmiert Rudolfs Korpus an zweiter Stelle direkt hinter Kaiser Heinrich auf pag. 4–8; danach stehen die Lieder Friedrichs von Hausen. Die Korpusminiatur (pag. 4), überschrieben mit GRAVE .R. UON FENIS, zeigt den Sänger mit goldener Krone im roten Kleid und hellroten Umhang unter einem grünen Ahorn auf grünem Gras (oder einer ausgebreiteten grünen Decke) sitzend, von seiner linken Hand geht ein (leeres) Spruchband, Zeige- und Mittelfinger der erhobenen Rechten weisen aufwärts, wohl eine Redegeste. Ins Bild gesetzt ist augenscheinlich der Prozess des Dichtens.
Kompliziert sind die Verhältnisse in C: Dort erstreckt sich das Korpus Rudolfs von fol. 20r bis 22r und gehört zur zweiten Lage im Grundstock der Sammlung (vgl. Henkes-Zin, S. 27); es ist umschlossen von den Korpora Herzog Johanns von Brabant und Graf Krafts von Toggenburg. Fol. 21 ist dabei die Hälfte eines nachträglich eingelegten Doppelblattes, dessen Gegenblatt fol. 26 ist (vgl. ebd., S. 27f.); es tradiert nur die drei Strophen C Fen 23–25 auf fol. 21ra, neben denen Goldast vermerkt: Diese trey gesäcz gehören zu end dises liedes; der Rest des Blatts ist leer. Die drei Strophen werden in LDM als die drei letzten des Korpus gezählt (vgl. auch MF/MT). Die Überlieferung des Lieds C Fen 13–15 springt nach dem ersten Vers von C Fen 13, der die letzte Zeile in Spalte 20vb ausmacht, zu Spalte 22ra. Goldast notiert unter Spalte 20vb Im nachfolgend blat; er zählt den Strophenbeginn von C Fen 13 als 13 und hat offenbar zunächst die drei Strophen auf Blatt 21 als 13, 14 und 15 gezählt, wobei die Ziffer 13 radiert ist. Auf 22r fehlt Goldasts Zählung.
Die C-Miniatur (fol. 20r) ist überschrieben mit Graue Růdolf vō Nu̍wenburg, sie ist der B-Miniatur eng verwandt bei folgenden Unterschieden: Der Sänger sitzt nun auf einer gelben Bank auf zweistufigem, mit Maßwerk verziertem Podest, auf der Bank eine grüne Decke oder ein grünes Kissen; sein Unterhemd ist grün, sein Kleid rot, einen Überwurf trägt er nicht; die rechte Hand liegt im Schoß, Zeige- und Mittelfinger weisen nach rechts, der linke Ellenbogen ist auf das linke Knie gestützt. Im Hintergrund ist ein Rosenstock mit zahlreichen roten Blüten gesetzt, rechts über der Sängerfigur das Wappen: zwei senkrechte rote Pfähle, belegt mit je drei weißen Sparren, auf goldenem Grund.
Die BC-Überlieferung geht streng parallel; wo es größere Abweichungen (in der Regel nur: Wortersatz) gibt, betreffen diese vor allem formale Aspekte (Metrum und Reim). Leitend könnte das Bemühen von C gewesen sein, die Lieder ihren formalästhetischen Vorstellungen anzuverwandeln (Reinheit des Reims, Regelmäßigkeit des Metrums). Unsichere Positionen im Korpus besetzen die Lieder IV, VI und VIII; Lied IV und VI, weil sie ohne erkennbare romanische Vorlagen sind, Lied VI außerdem aufgrund einer rätselhaften Strophenform, Lied VIII endlich, weil es aus inhaltlichen Gründen möglicherweise besser in Walthers als in Rudolfs Œuvre passt (siehe unten).
Werk
Charakteristisch für Rudolfs Lieder ist die enge Bindung an die romanische, vor allem provenzalische Tradition. Kein anderer Minnesänger ist dieser in demselben Ausmaß verpflichtet, was sich nicht nur in der Übernahme von Strophenformen (also Kontrafakturen im engeren Sinne), sondern auch in der inhaltlichen Nachbildung romanischer Strophen (Motive, sprachliche Bilder, Gedankenfragmente) äußert. Nicht weniger als fünf der acht Lieder (I, II, III, V, VII) folgen diesem Prinzip, wobei die formalen und inhaltlichen Parallelen meist auf Folquet de Marseille zielen, neben diesem auch auf Grace Brulé, Gaucelm Faidit und Peire Vidal. Entsprechend reichhaltig ist die indirekte, also über die romanischen Quellen gegebene Melodieüberlieferung. Lied III und V teilen sich (wie erwähnt) denselben Ton, der auch sonst (im romanischen und im deutschen Sang) weit verbreitet scheint. Keine romanischen Parallelen sind bekannt zu den Liedern IV und VI, die aber dennoch zumindest in Teilen denselben ästhetischen Vorgaben (siehe unten) gehorchen, sich also einigermaßen gut ins Gesamtbild fügen (vor allem Lied IV), sowie zu Lied VIII, das sich konzeptuell markanter unterscheidet.
Zu betonen ist, dass Rudolf keine kompletten Nachbildungen ganzer Lieder produziert, sondern das übernommene Material neu und originell, oft in der Kombination verschiedener romanischer Strophen und Lieder, arrangiert. Unklar ist, ob Rudolf dabei stets nur der Nehmende ist oder ob man von einem gegenseitigen Dialog ausgehen darf. Immerhin können Rudolfs Lieder, wenn die Identifikation mit Rudolf II. zutrifft, kaum später als in den frühen 1190er Jahren entstanden sein; die romanischen Vergleichstexte aber werden ebenfalls auf um 1190 datiert.
Formal bedingt die enge Bindung an die Romania einige Eigenheiten, die Rudolfs Lieder von denen seiner Zeitgenossen scharf unterscheiden. Die überwiegende Zahl der Lieder (I, II, IV, V und VI) hat auffällig unruhige Rhythmen, die gemeinhin als gemischte Daktylen gedeutet werden (maßgeblich Heusler, §§ 686–691; vgl. auch MF/KU, S. 203f., 215 u. ö.). Vermutlich sind sie im Versuch entstanden, romanische Metren nachzuahmen, namentlich Zehn- und Siebensilbler, doch mit freiem Auftakt, was im Deutschen vier- oder fünfhebigen Versen gleichkommt; die entstandenen ›Reibungsverluste‹ sind typisch für solche formalen Importunternehmungen. Bis auf Lied VI, dessen Strophenform sehr schwer deutbar, das vielleicht auch durch die Überlieferung zerrüttet ist, sind alle Lieder isometrisch. Es herrscht ein Hang zur Durch- (III, V) und Anreimung (II, IV), die Reime selbst sind allerdings nicht selten unrein, vor allem in B, in C teils (wohl) ›gebessert‹. Die Strophentektonik schwankt zwischen Perioden- und Kanzonenstrophe. Auch das parallel unter Walther überlieferte Lied verschließt sich dieser formalen Konzeption nicht, vielleicht ist es aus diesem Grund in das C-Korpus Rudolfs einsortiert.
Inhaltlich dominieren ausschließlich Konstellationen der Hohen Minne in weitgehend unspezifischen Minneklagen. Zentrale Elemente sind Dienst und Gnade, auch Frau Minne als abstrakte Macht wird herbeizitiert, wichtigstes inhaltliches Stilmittel sind adversative Fügungen, häufig in Gestalt negativ-exzipierender Konstruktionen. Die sprachliche Bildlichkeit schwankt zwischen Blässe und Eigensinn, wobei Rudolf aus dem romanischen Motivinventar geschöpft haben dürfte. Auf sein eigenes Konto gehen wohl die Natureingänge (Lied IV und VI). Zu bildlicher Verdichtung à la Heinrich von Morungen, komplexen Gedankenspiralen à la Reinmar oder pointierten Zuspitzungen à la Walther neigt Rudolf durchaus nicht, wenn man von der, vielleicht aber eben doch waltherschen, Gedankenlogik von Lied VIII (in E) absieht.
Seit vielen Jahrzehnten obsolet erscheint die alte Idee der Forschung, man müsse Rudolfs Lieder als einen geschlossenen Zyklus betrachten (dokumentiert bei Tervooren). Gerade die mangelnde Spezifik in inhaltlicher Hinsicht und der Verzicht auf stringente Argumentation schon innerhalb der einzelnen Lieder schiebt der Phantasie, hier würde eine Art Geschichte oder ein emotionaler Vorgang entfaltet, einen festen Riegel vor. Quasi-zyklische Geschlossenheit erreicht das Œuvre aber in der relativ strengen Konzentration auf klar benennbare formalästhetische und inhaltliche Prinzipien. Solche Rigidität, Kompaktheit und Konsequenz suchen im Minnesang ihresgleichen.
Florian Kragl