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Den Sängernamen ›Kanzler‹ überliefern der Codex Manesse (fol. 423v: Chanzler), die Basler Rolle (fol. 1v: Der Kantzeler) sowie die Basler Meisterliederhandschrift (fol. 34r: kanczler). Ob es sich bei diesem um einen Bei- oder um einen Eigennamen handelt, muss offenbleiben.
Unwahrscheinlich ist, dass die fiktive Anrede her Kanzler (C Kanz 63,2), die sich in einer der Sangspruchstrophen findet, eine Zugehörigkeit zum Adel ausdrücken soll. Dagegen spricht schon, dass der Sänger als Sangspruchdichter hervorgetreten ist; außerdem deuten seine Texte auf eine Existenz als Fahrender hin (etwa: varndu̍ diet und kunstricher gernder, C Kanz 69,11f.). Schließlich weist die Miniatur in C, die drei Musiker zeigt, kein Wappen auf.
Dass es sich bei dem Sänger um jenen Kanzler handelt, der zwischen 1312 und 1323 als Schulmeister in Offenbach urkundlich bezeugt ist, lässt sich nicht belegen und passt auch nicht zur literaturgeschichtlichen Stellung seines Werks (wohl nach Konrad von Würzburg, s. u.).
Entsprechend lässt sich der Kanzler auch räumlich und zeitlich allenfalls ungefähr einordnen. Die Reimsprache wird als oberdeutsch beschrieben, und die erste Handschrift, die Texte unter seinem Namen überliefert, die ›Basler Rolle‹, wird auf das Ende des 13. Jahrhunderts bzw. um 1300 datiert. Einen terminus post quem hätte man, wenn man das lyrische Werk des Kanzlers auf das Konrads von Würzburgs bezöge (s. u.): frühestens ab 1260, wahrscheinlich aber später.
Der Anspielungs- bzw. Wissenshorizont, den die Sangsprüche des Kanzlers aufspannen, verweist auf eine gelehrte lateinische Bildung.
Überlieferung
Der wichtigste Zeuge für den Kanzler ist C (fol. 423v–428r, am Ende des Grundstocks) mit einem Korpus von 77 Strophen, das sowohl Minnlieder als auch Sangsprüche umfasst. Es gliedert sich nach Gattungen in drei Blöcke: Sangspruch (Str. 1–22) – Minnesang (Str. 23–57, bei den Str. 49–51 handelt es sich um einen Minnespruch) – Sangspruch (Str. 58–77). Etwa zeitgleich dürfte die Sammlung der Basler Rolle entstanden sein, die allerdings nur fragmentarisch erhalten ist und lediglich acht Sangspruchstrophen – diese finden sich sämtlich auch in C – überliefert. Deutlich später ist dagegen die Überlieferung in der Niederrheinischen Liederhandschrift (Ende des 14. Jahrhunderts) und in der Basler Meisterliederhandschrift (Mitte des 15. Jahrhunderts). Von den beiden N-Strophen (fol. 91v und 95rv) ist nur eine altüberliefert, weshalb die Echtheit der zweiten fraglich ist. In b (fol. 34r–35r) sind drei früh bezeugte Kanzler-Sangspruchstrophen zu einem Dreierbar verbunden. Die ›Kolmarer Liederhandschrift‹ enthält zwar keine Texte, die dem Kanzler namentlich zugeschrieben werden, überliefert aber zwei Melodien zum Goldenen Ton.
Werk
Der Kanzler gehört zu der kleinen Zahl von Sängern, die Minnesang und Sangspruch gleichermaßen geübt haben. In der C-Sammlung stehen 44 Sangspruchstrophen neben 33 Minnesangstrophen. Letztere treten zu elf dreistrophigen Liedern zusammen, die mit der Ausnahme von C Kanz 22–24 dem Typus des Allgemeinen Minnelieds zugehören. Bestimmt ist dieser zunächst durch seine Sprechhaltung: An die Stelle eines Ichs, das über sein Verhältnis zu einer bestimmten Frau spricht, tritt ein pronominal nicht bzw. kaum hervortretender Sprecher, der ein Lob der Liebe und der Frauen überhaupt äußert. Parallel verschiebt sich der Stimmungswert vom Leid zur Freude, was darauf zurückzuführen ist, dass die Liebe jetzt als eine erfüllte gedacht ist. Alle Allgemeinen Minnelieder des Kanzlers weisen einen Natureingang auf. Formal ist für sie die Kanzonenstrophe mit Steg und drittem Stollen charakteristisch.
Die Sangsprüch verwenden fünf Töne, die zum Teil weit ausladen. Von diesen ist der Hofton I mit 20 Strophen der produktivste; es folgen der Goldene Ton mit elf, der Ton I mit 6, der Ton III mit vier und Ton XIII mit drei Strophen. In der Regel stehen die Strophen allein, Zweier- (C Kanz 2f., C Kanz 16f.) und Dreierbare (C Kanz 7–9, C Kanz 49–51, C Kanz 71–73) sind die Ausnahme. Die Themen sind die der Sangspruchdichtung überhaupt: Heische, Kunst, Religion sowie Tugend- bzw. Herrenlehre. Einige Strophen (C Kanz 15, C Kanz 49–51) beschäftigen sich mit der Minne und stehen so auf der Grenze zum Minnesang (zur wechselseitigen Durchdringung von Minnesang und Sangspruch beim Kanzler vgl. Haustein). Das Wissensreservoir, aus dem sich die Sangsprüche für ihre Argumentation bedienen, reicht vom Alten Testament über die äsopische Fabel bis hin zur mittelalterlichen Naturkunde (Astronomie, allegorische Tierdeutung). Einige Strophen verschreiben sich besonders der Begriffsexplikation (Huber, S. 53, 78). Die rhetorische Gestalt der Kanzler’schen Sangsprüche wird vor allem durch das Prinzip der Reihung (Anapher, katalogartige Aufzählung, Parallelismus u. ä.) geprägt.
Das lyrische Œuvre des Kanzlers weist eine große Schnittmenge mit dem Konrads von Würzburg auf. Diese reicht von der allgemeinen Ebene der Liedtypen (Allgemeines Minnelied) über die Gestaltung der Form (Strophenstruktur, vgl. Rettelbach, S. 164; virtuoser Einsatz von Reimen, etwa in C Kanz 49–51) bis hin zu Allusionen. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei Konrad von Würzburg um einen der produktivsten und profiliertesten deutschen Autoren des 13. Jahrhunderts handelt, wird man ihn als den Gebenden und den sonst unbekannten Kanzler als den Nehmenden ansehen wollen, ohne dass sich diese Relation im strikten Sinne beweisen ließe.
Die Meistersinger rechneten den Kanzler unter die Zwölf alten Meister und benutzten seinen Goldenen Ton weiter.
Manuel Braun