Über Wolfram von Eschenbach – Wolfram von eschebach (A, fol. 30v) bzw. her wolfran von Eſchilbach (C, fol. 149v) – ist nur das bekannt, was sich literarischen Werken entnehmen lässt. Das zentrale Datum ist die Anspielung im 7. Buch seines ›Parzival‹ auf die Zerstörung der Erfurter Weingärten im Jahre 1203. Da Wolfram bis dahin schon sechs von sechzehn Büchern seines großen Romans gedichtet hatte, wird er nicht viel nach 1170 geboren sein. Der ›Titurel‹ und der ›Willehalm‹ wiederum erwähnen den Tod des Thüringer Landgrafen Hermann I., der 1217 verstorben ist. Da beide Fragment geblieben sind, denkt man sich ihren Autor um 1220 verstorben. Einer Familie lässt sich Wolfram nicht sicher zuordnen. In der Diskussion sind »die zwischen 1260 und etwa 1400 in mehreren Zweigen urkundlich belegte[] Familie der Herren von Eschenbach« sowie eine »Ministerialenfamilie der in Eschenbach begüterten mainfränkischen Grafen von Wertheim« (Brunner, S. 1128). Förderer waren verschiedene fränkische Adelige, welche im Umkreis von Ober- bzw. Wolframs-Eschenbach bei Ansbach begütert waren, die bayerischen Wittelsbacher und vor allem Landgraf Hermann I. von Thüringen. Die Miniatur der Großen Heidelberger Liederhandschrift stellt Wolfram als Ritter dar, der in voller Rüstung mit geschlossenem Visier dem Betrachter frontal zugewandt dasteht und jeweils einen Schild – das Wappen mit zwei braunen Beilen vor rotem Grund entspricht dem der fränkischen Eschenbacher nicht – und eine Fahnenlanze in den Händen hält, während ein Knappe sein Pferd am Zügel führt: Der Ritter ist mithin im Begriff aufzubrechen. Die Ritterbürtigkeit des Autors lässt sich aus dieser Darstellung freilich nicht ableiten.
Wann in seiner Schafffenszeit sich Wolfram der Lyrik zugewandt hat, lässt sich nicht sicher sagen. Man hat die Aussage ich kan ein teil mit sange (114,13) in der sog. ›Selbstverteidigung‹ des ›Parzival‹ so verstanden, dass Wolframs hier auf sein bereits vorliegendes lyrisches Werk verweist. Das ist denkbar, aber nicht zwingend und liefert allenfalls einen Anhaltspunkt für die Entstehung der Lieder. Ein konkretes mögliches Datum hat Becker ins Spiel gebracht, indem sie die Rede von der sunnen dri mit blicke (C Wolfr 16, V. 8) im Lied ›Ez ist nu tag, daz ich wol mag mit warheit jehen‹ (C Wolfr 14–17 et al.) als Anspielung auf ein optisches Phänomen auffasst, das am 30. Januar 1207 aufgetreten ist: die ›Verdreifachung‹ der Sonne durch »Eiskristalle[] in der Atmosphäre« (S. 244), die eine Lichtbrechung bewirkt hatten. Das klingt zunächst nach einer ansprechenden Vermutung, zumal Hermann I. von Thüringen in Caesarius’ von Heisterbach Beschreibung des Ereignisses erwähnt wird. Kühne hat allerdings darauf aufmerksam gemacht, dass bei Caesarius nicht von drei Sonnen, sondern von einer Dreiteilung der Sonne die Rede sei, dass Wolframs Lied nicht erkennbar auf das astronomische Ereignis Bezug nehme und dass die drei Sonnen ein bekanntes Trinitätssymbol seien, das zur biblisch geprägten Sprache des Liedes passe. Insofern wird man weder das Lied ›Ez ist nu tac‹ noch Wolframs übrige Lieder genauer datieren können.
Die »trümmerhafte Überlieferung« (Holznagel, S. 87) vermittelt vermutlich keinen vollständigen Eindruck von Wolframs Lyrik, und sie macht es selbst schwer, die Zahl der erhaltenen Lieder Wolframs von Eschenbach anzugeben. Die Große Heidelberger Liederhandschrift schreibt ihm sieben Lieder mit insgesamt 27 Strophen zu. Eines davon findet sich auch in der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift, drei weitere in der Weingartner Liederhandschrift, dort allerdings in einem namenlosen Korpus. Die sowohl in C als auch in A bzw. B vorkommenden Lieder verdanken sich gemeinsamen Vorlagen *AC und *BC. Zu diesem Bestand kommen noch weitere acht Strophen respektive zwei Lieder in der Handschrift G, die zwar keine Autorangabe kennt, allerdings auch Wolframs ›Parzival‹ und ›Titurel‹ überliefert und deshalb im Kern für eine Wolfram-Handschrift gehalten wird.
Von den sieben Liedern, welche die ABC-Überlieferung bewahrt, werden zwei meist für unecht gehalten, nämlich die beiden am Ende der C-Sammlung eingetragenen Lieder C Wolfr 18–23 und C Wolfr 24–26. Das zentrale Argument dafür, Wolfram Letzteres abzusprechen, ist die Parallelüberlieferung der ersten Strophe in den ›verdächtigen‹ Korpora von Gedrut und Rubin und (?) Rüdiger; unanfechtbar ist es nicht, denn es können auch echte Wolfram-Strophen in diese Korpora gelangt sein, die generell den Eindruck sekundärer Sammlungen erwecken. Noch sehr viel schwächer ist die Begründung für die Athetierung des Ersteren, dessen Konventionalität man Wolfram schlicht nicht zutrauen wollte. Wie subjektiv dieses Urteil ist, zeigt der Umstand, dass einige Forscher das Lied als Ganzes verwerfen, während andere nur die letzten drei Strophen für den Zusatz eines anderen Autors halten. Selbst Stimmen für seine Echtheit finden sich. Auch das Lied C Wolfr 1–3 wurde von Teilen der älteren Forschung athetiert, wobei man sich wieder auf Stilurteile stützte. Umgekehrt werden die beiden Lieder, die die Handschrift G ohne Autorangabe bewahrt, Wolfram für gewöhnlich zugesprochen.
Wir kennen also höchstens neun Wolfram-Lieder, wenigstens aber vier. Die Handschriften bezeugen sieben Lieder für Wolfram von Eschenbach, und auch die Forschung schreibt ihm für gewöhnlich sieben zu. Da ihm Letztere aber zwei C-Lieder ab- und dafür die zwei G-Lieder zuerkennt, decken sich beide Bestände nicht. Hinsichtlich der Athetesen wird man heute zurückhaltender sein, da sie vor allem auf ästhetischen Vorannahmen beruhen, die sich letztlich nicht validieren lassen.
Was das Gattungsspektrum angeht, so steht das Tagelied und mit ihm ein narrativ angelegtes Genre im Zentrum von Wolframs lyrischem Werk, und das gilt sowohl in quantitativer (fünf von neun Liedern) als auch in qualitativer Hinsicht. Bei den restlichen Liedern – C Wolfr 1–3, C Wolfr 9–13, C Wolfr 18–23 und C Wolfr 24–26 – handelt es sich um Minne- und Werbelieder, die teils topisch argumentieren, teils eine sehr eigene Semantik aufweisen. Sowohl das Konventionelle als auch das Originelle dieser Lieder hat man als Indiz dafür genommen, dass sie den Minnesang parodieren.
Die in der älteren Forschung diskutierte Frage, ob die Tagelieder einen Zyklus bilden würden, in welche Reihenfolge sie dann zu bringen wären und welche (biographisch unterlegte) Geschichte sie erzählen würden, wird man für obsolet halten (so bündig bereits Bumke, S. 346). Gleichwohl wird man konstatieren können, dass die fünf Lieder das Genre ›Tagelied‹ variieren, mithin einen »Variationszyklus« (Wapnewski, S. 167) bilden. Unter der Prämisse, dass die Texte das Modell ›Tagelied‹ durchspielen, haben die Rollen der Frau und des Wächters, das Vorkommen zitierter Figurenrede sowie die Motive des Tagesanbruchs und des urloups (und mit ihm die explizite Erwähnung des Liebesakts) besondere Aufmerksamkeit erfahren. Auch die Art und Weise, in der sich die Narrativität jeweils ausprägt – etwa: narrativer versus dramatischer Modus –, ändert sich von Lied zu Lied. Zentral ist in diesem Zusammenhang schließlich auch die Bedeutung des Liedes ›Der helden minne ir klage‹ (C Wolfr 4f.), das sowohl als Absage Wolframs an die Gattung oder als deren Apotheose gelesen worden ist. Alle Überlegungen zur Zyklizität der Tagelieder gehen freilich vom Gesamtbestand aus, nicht von der Überlieferung, wo die einzelnen Zeugen eine je eigene, beschränkte Textauswahl bieten (Boll, S. 484f.).
Der Wächter spricht mindestens in zwei (C Wolfr 6–8 et al. G Wolfr 1–3), vielleicht sogar in drei (C Wolfr 14–17 et al.) der Wolfram’schen Tagelieder, in einem vierten wird er angesprochen (C Wolfr 4f. et al.) und in einem fünften erwähnt (G Wolfr 4–8). Er konfrontiert die Liebenden mit den Ansprüchen der Gesellschaft und steht ihnen zugleich gegen diese bei, er erweitert die minnesangtypische Dyade um die Position des (ausgeschlossenen) Dritten, und er ermöglicht die Ausbildung von Selbstbezüglichkeit, da er zur Warnung singt. So bedeutsam der Wächter in Wolframs Tageliedern ist, so unklar ist seine Herkunft. Es ist sowohl strittig, ob Wolfram den Wächter als Erster ins deutsche Tagelied eingeführt hat, als auch, ob er dazu durch romanische Vorbilder angeregt worden ist. Denn es kann verlorene deutsche Tagelieder geben, die den Wächter bereits kennen, und außerdem sind vor 1200 nur wenige Albas gesichert. Nicht zuletzt ist auch mit Einflüssen der deutschen Epik oder der lateinischen Hymnik zu rechnen. Auch die Frage, ob Wolframs Tagelieder sonst auf romanische Prätexte verweisen, ist angesichts der unsicheren Datierung und der weiten, sprach- und kulturübergreifenden Verbreitung der Gattung nicht endgültig zu entscheiden.
Formal erweisen sich Wolframs Lieder als sperrig. Bei der Behandlung der Verse nehmen sie sich große Freiheiten, und nicht einmal ihre Länge steht immer fest, sodass sie sich entweder als Kurz- oder als zäsurierte Langverse deuten lassen. Auch die Strophenform ist nicht immer leicht zu bestimmen, da sie sich in den Liedern C Wolfr 4f. et al., C Wolfr 6–8 et al. und C Wolfr 14–17 et al. weit von einem konventionellen stolligen Bau entfernt. Auf der Form- wie auf der Inhaltsebene sind die Lieder durch Techniken der Wiederaufnahme – Responsionen, Gleichklänge und Leitwörter – gekennzeichnet.
Obwohl sich von Wolfram von Eschenbach keine Sangsprüche erhalten haben, tritt er im ›Wartburgkrieg‹ als Sänger auf – Anlass hierfür dürfte die Nähe des historischen Wolfram zum Landgrafen Hermann gewesen sein –, und zählen ihn die Meistersinger zu den Zwölf alten Meistern und schreiben ihm mehrere Töne zu.
Manuel Braun
Incipit | Hs. | Strophen | Editionen |
C | 1 2 3 | KLD 69 III; MF 5,16 | |
C | 4 5 | KLD 69 IV; MF 5,34 | |
C | 6 7 8 | KLD 69 V; MF 6,10 | |
C | 9–13 | KLD 69 VI; MF 7,11 | |
C | 14 15 16 17 | KLD 69 VII; MF 7,41 | |
C | 18–23 | KLD 69 [VIII]; MF 9,4 | |
C | 24 25 26 | KLD 69 [IX]; MF/MT Wolfr IX,1 |
Parallelüberlieferung mit anderer oder fehlender (Text-)Autorangabe |
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A | 30 | KLD 69 IX | |
C | 3 | KLD 69 [IX] |