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Zitierempfehlung und Versionsdokumentation
Perspektivisch hat das Projekt »Lyrik des deutschen Mittelalters« das Ziel, sämtliche lyrische Texte des deutschsprachigen Mittelalters neu aus den Quellen herauszugeben; praktisch geht es in Etappen vor und ediert nach und nach einzelne Korpora. Im Zentrum der Editionstätigkeit steht derzeit der Minnesang. Entsprechend werden Sangsprüche nur dann ediert, wenn sie Teil von Autorsammlungen sind, die zu einem Gutteil Minnesang enthalten. In Reaktion auf jüngere mediengeschichtliche sowie text- und editionstheoretische Forschungen bildet vor allem die handschriftliche Überlieferung den zentralen Bezugspunkt der neuen Edition, weniger die Editionspraxis der germanistischen Mediävistik.
Das bedeutet zum einen, dass die Edition, wo immer möglich, das Digitalisat der Handschriften bereitstellt, sodass alle weiteren Bearbeitungsschritte von den Benutzern an der Quelle selbst überprüft werden können. Zum anderen enthält »Lyrik des deutschen Mittelalters« stets sämtliche Zeugen eines Textes und ediert diese für sich; sie bricht also mit dem rekonstruktionsphilologischen Konstrukt des Mischtextes. Aufeinander bezogen werden die verschiedenen Überlieferungsträger in den Synopsen sowie im Kommentar. Letzterer ist der Ort, an dem der Wert und das Verhältnis der jeweiligen Zeugen zueinander sowie andere traditionelle textkritische Fragen thematisiert werden. Diese werden also nach wie vor gestellt, aber nur noch diskursiv beantwortet, nicht mehr durch Eingriffe in den überlieferten Wortlaut. Der Glaube an die Möglichkeit, den Autortext oder wenigstens den Archetypus wiedergewinnen zu können, ist der Mediävistik in dem Maße abhanden gekommen, wie ihr Respekt für die Materialität der Handschrift gestiegen ist. Die Verpflichtung auf die Überlieferung ist also das Leitprinzip von »Lyrik des deutschen Mittelalters«, was freilich keinen Rückfall auf die Position eines Positivismus der Handschriften bedeutet. Vor diesem bewahrt sie nicht nur die lange textkritische Tradition, deren Reflexionsstand von jeder und also auch von der vorliegenden Neuausgabe einzuholen ist, sondern auch der Wunsch, den Benutzern den Zugang zu den überlieferten Texten zu erleichtern, indem sie diese durch Kommentare aufbereitet.
Beim Minnesang sind alle Zeugen Teil der Edition. Anders verfährt das Projekt derzeit beim Sangspruch. Denn da die Kunst der Meistersinger unmittelbar an diesen anschließt, sich auf dessen Sänger beruft und seine Texte und Töne weiterverwendet und weiterdichtet, sind viele Texte aus dem Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit überliefert, die in den Handschriften zwar hochmittelalterlichen Autoren zugeschrieben werden, mit großer Sicherheit aber nicht von diesen stammen. Die Veränderung, die die Gattung des Sangspruchs im Übergang zum Meistergesang erfahren hat, schlägt sich auch in einem Einschnitt in der Überlieferung nieder, der um 1350 liegt. Entsprechend erfassen Editionen von Sangsprüchen nur jene Texte, die sich in Handschriften finden, die vor dieser Schwelle geschrieben worden sind. Später überlieferte, dem Autor zugeschriebene Texte werden nur dann ediert, wenn sie Parallelüberlieferung zu dieser Frühüberlieferung darstellen.
Den durchaus widerstreitenden Interessen der Überlieferungssituation, der Forschungstradition sowie der Benutzerfreundlichkeit zugleich gerecht zu werden, ist das Ziel von »Lyrik des deutschen Mittelalters«; ihm verdankt sich seine Konzeption, deren Kern ein erst im digitalen Medium mögliches Mehrschichtenmodell ausmacht. Das heißt, dass der handschriftliche Text, der im Abbild präsent ist, durch eine möglichst genaue Transkription in ein modernes Zeichensystem (Unicode bzw. XML/TEI) umgesetzt wird. Im weiteren Verlauf der editorischen Arbeit wird diese Transkription nicht überschrieben, sondern sie bleibt als eine Möglichkeit der Textansicht verfügbar. Als Standardansicht bietet die Edition allerdings einen behutsam normierten Text, der gegebenenfalls gebessert, mit Apparaten und Kommentaren sowie einer (abschaltbaren) modernen Interpunktion versehen ist. Zu oberdeutschen Handschriften, die vor 1350 geschrieben worden sind, lässt sich schließlich als Lesehilfe eine entsprechende Normalisierung zuschalten. Der normalisierte Text ist deshalb nicht als Standardansicht gewählt, weil seine Künstlichkeit bewusst gehalten und weil ein uneinheitliches Bild in den Synopsen vermieden werden soll. Denn die Texte späterer und/oder mittel- und niederdeutscher Handschriften, die zu weit vom Normalmittelhochdeutsch der Grammatiken entfernt sind, werden nicht normalisiert. Die Praktiken und Prinzipien der beiden Bearbeitungsschritte ›Transkription‹ und ›Edition‹ werden im Folgenden genauer erläutert.
Transkribiert werden alle Zeichen, die für den Textbestand irgendwie relevant sein können, und zwar nicht nur im literaturwissenschaftlichen, sondern auch im sprachhistorischen Sinn. Das sind neben Buchstaben und Abbreviaturen, die Buchstaben vertreten, Hinweise auf die Gliederung des Textes (Virgeln, Punkte, Capitulum etc.). Auch unsicher Lesbares wird transkribiert, die Unsicherheit der Lesung aber graphisch verdeutlicht. Nicht erfasst werden hingegen Zeichen, die wie Zierstriche oder Federproben jenseits des Textes angesiedelt sind.
In Fragen der Groß- und Kleinschreibung folgt die Transkription stets der Handschrift. Eine Ausnahme stellen die litterae notabiliores dar, die auch dann als Majuskeln realisiert werden, wenn es sich bei ihnen um überdimensionierte Minuskeln handelt. Auch Getrennt- und Zusammenschreibung folgen der Handschrift. In Zweifelsfällen orientiert sich die Transkription am Usus der jeweiligen Handschrift oder, wenn dieser keinen Hinweis gibt, an dem der Wörterbücher. Allographe (einschließlich der Diakritika) werden zu einem Zeichen zusammengeführt; nur das Schaft-s bleibt erhalten. Die Verbindung von Schaft-s plus z erscheint als ß, rundes s plus z als sz. Bei späten Bastarda-Codices können handschriftenspezifisch auch verschiedene Grapheme bzw. Graphemgruppen zu einem Zeichen zusammengefasst sein, also etwa y, ii und ij zu ii. Derartigen Vereinfachungen geht eine sorgfältige Analyse der Schreibgewohnheiten voraus, die in der Beschreibung der fraglichen Handschrift dokumentiert ist, und sie werden nur dann vorgenommen, wenn sie keine Auswirkung auf den Lautwert haben.
Korrekturen am ursprünglichen Text werden grundsätzlich immer dann transkribiert, wenn davon auszugehen ist, dass sie ›alt‹ sind. Über nicht berücksichtigte Korrekturen ›jüngerer‹ Hände informiert der Korpuskommentar. Korrekturen werden in der Regel graphisch veranschaulicht, komplexe Fälle ggf. im Apparat erläutert. Die Transkription folgt der korrigierten Fassung, was bedeutet, dass im Zweifelsfall (z. B. bei der Umstellung von Wörtern) diejenige Textgestalt Vorrang erhält, die aus der Korrektur hervorgegangen ist. Auf der übergeordneten Ebene eines Liedes oder Bars gilt Analoges für die Einfügung von Nachtragstrophen.
Die Grundeinheit der Transkription ist jeweils die Strophe, doch erfasst sie auch Paratexte und weist sie als solche aus (in der Transkriptionsansicht durch rote Farbe: ain anders, in der Editionsansicht durch Kursivierung: ain anders). Auch wenn die Handschrift einen Strophenverbund anders als durch Überschriften herausstellt – etwa durch die Farbe von Initialen oder durch das Paragraphenzeichen –, notiert das die Transkription. Was die mise en page angeht, wird Zeilenwechsel mit einfacher, Spalten- und Seitenwechsel mit doppelter Virgel kodiert. Bei nachgetragenen Wörtern und Strophen beschreibt der Apparat das Nachtragszeichen. Lücken, die durch nachträglichen Materialverlust entstanden sind, werden notiert, und die Zahl der fehlenden Zeichen bzw. Zeilen wird angegeben. Auf bewusste Aussparungen verweist hingegen der Apparat.
Um die Lesbarkeit des Textes zu erhöhen, greift die Edition normierend in die Graphematik der Handschrift ein.
Um Lesegewohnheiten zu bedienen, stellt die Edition wahlweise eine normalisierte Version des Editionstextes bereit. Grundlegend dafür sind die Flexionsparadigmen in 24Mhd. Gramm. sowie die Wortformen der Wörterbücher (BMZ, Le, MWB). Bieten diese mehrere Formen, ist jene gewählt, die dem Wortlaut der Handschrift am nächsten kommt. Ein normalisierter Text wird nur dann angeboten, wenn die sprachhistorische und dialektgeographische Distanz eines Überlieferungszeugen zum ›Normalmittelhochdeutschen‹ eine rein lautliche ›Normalisierung‹ sinnvoll erscheinen lässt.
An die Stelle der handschriftlichen (Virgeln, Punkte, Capitulum etc.) tritt in der Standardansicht eine vom Herausgeber hinzugefügte Interpunktion. Sie folgt den Regeln der gegenwärtigen Rechtschreibung und verwendet die heute üblichen Zeichen. Klar erkennbare Rollenrede sowie zitierte Rede werden von Anführungszeichen umschlossen; das gilt unterschiedslos für Frauen- wie für Männerrede.
Die Ausrichtung auf die Überlieferung legt die Schwelle für Konjekturen hoch. Vor jedem Eingriff ist erwogen worden, ob sich das als Fehler wahrgenommene Phänomen nicht auch anders – etwa als poetisch gewollter Normbruch, als Ergebnis des Sprachwandels etc. – erklären lässt. Schwierige Fälle sind im Apparat erläutert. Konkret werden unter Fehlern vor allem Verstöße gegen die Grammatik verstanden, mitunter auch gegen das Reimschema. Hingegen gibt es keine Eingriffe metri causa.
Den Text begleiten drei Apparate. Der erste ist rein überlieferungskritisch; er notiert Auffälligkeiten der Handschrift und verzeichnet bei Konjekturen die handschriftliche Lesung. Der zweite ist textkritisch und dokumentiert die Eingriffe älterer Editionen, allerdings nur dann, wenn der Editor sie nach wie vor für relevant hält (z. B. Übernahme einer Konjektur, Bereitstellung einer bedenkenswerten alternativen Textgestalt). Der dritte bietet Erläuterungen textkritischer Sachverhalte sowie Lese- und Verständnishilfen.
Ebenfalls hinzugefügt werden dem Text bzw. der Strophe Überschriften. Die Textüberschrift besteht aus dem Autornamen, den die Handschrift angibt, jedoch in einer einheitlichen Schreibung, dem Initium sowie der Sigle der Handschrift und den Strophennummern des jeweiligen Zeugen: »Rubin, ›Lob der reinen wibe mac‹ (A 1 2 3)«. Die Strophenüberschrift verwendet hingegen Kürzel, die zugleich der Zitation dienen. So wäre »B Dietm 4« die vierte Strophe der Sammlung ›Dietmar von Aist‹ in der Weingartner Liederhandschrift. Nach diesem System können auch Texte bzw. Textbündel zitiert werden: C Knecht 20f. = A Leuth 41f. oder C Mezze 19–21 et al.
Beigegeben ist jedem Text auch ein Kommentar. Dieser enthält Hinweise zur Überlieferung – entsprechend bezieht er sich nicht auf einen einzelnen Zeugen, sondern nimmt die gesamte Parallelüberlieferung in den Blick –, zur Metrik und zum Inhalt (einschließlich Hinweisen zum Genre, zur literarhistorischen Position etc.). Die metrische Beschreibung orientiert sich an Hugo Kuhn und verwendet also Formeln wie die folgenden: .4(-)+(.)4a (.)4+4a 4(-)b (.)4(-)b (.)2-c (.)6-c oder: .3a 4b / .3a 4b // .4c 4-d .4-d 4c -4-e .4-e. Das Schema notiert den Auftakt (mit einem Punkt), die Hebungszahl (mit einer Ziffer), die Versgliederung (mit einem Plus für Langverse, die durch eine Zäsur gegliedert sind), die Kadenz (mit einem waagrechten Strich für die weibliche oder klingende Kadenz), den Reim (mit Kleinbuchstaben) sowie die Strophenstruktur (mit einer einfachen Virgel für die Grenze zwischen den Stollen sowie zwischen Steg und drittem Stollen und einer Doppelvirgel für die Grenze zwischen Auf- und Abgesang; Der Refrain wird mit //R von der Strophe abgesetzt. Analog können auch bei anderen Bauformen Strophenteile mit / bzw. // abgegrenzt werden). Fakultative Elemente sind eingeklammert.
Aspekte, die einen einzelnen Text übergreifen, behandeln der Autor-, der Korpus- und bei Spruchtexten der Tonkommentar. Autorkommentare nehmen alle Texte in den Blick, die in den verschiedenen Zeugen unter dem entsprechenden Namen überliefert sind (einschließlich der Parallelüberlieferung); sie enthalten Hinweise zum (historischen) Autor, stellen die Überlieferungslage dar und charakterisieren das jeweilige Œuvre. Korpuskommentare setzen auf der Ebene des einzelnen Überlieferungsträgers an und untersuchen auf dieser eine konkrete Sammlung.