Überlieferung: Die ursprünglich namenlose Reinmar-Sammlung in B (s. Korpuskommentar zu B) überliefert ein sechsstrophiges Lied. Die ersten vier dieser Strophen, ergänzt um eine Zusatzstrophe, bilden in E ein fünfstrophiges Lied, das erste des dort überlieferten Reinmar-Korpus (der Beginn des Korpus ist durch Blattverlust nicht überliefert). Drei der Strophen tradiert ferner das Berner Hausbuch P1, eine die Haager Liederhandschrift S – in beiden Handschriften anonym überliefert.
Carl von Kraus (MF/K) folgt in der Strophenordnung B, stellt jedoch die dort fünfte Strophe an den Schluss (nach der Zusatzstrophe in E; vgl. auch Nordmeyer, der zudem eine Verbindung zu C Meinl 14 sieht).
Form: 5a 6b / 5a 6b // 4c 4c .1-d 3*4-d 3*4c
Es liegen neunversige Stollenstrophen vor. in P1 I ist das Reimschema mehrfach gestört (s. Konjekturen). In E II fehlt der sechste Vers. In B III ist der d-Reim unrein; in S ist der a-Reim weiblich. Ferner ist der c-Reinm mehrfach als rührender Reim gestaltet (B III / P1 III, V. 6:9; B V, V. 6:9).
Über Reimresponsionen, insbesondere in den V. 2 und 4, sind die Strophen miteinander verbunden. So greift der b-Reim von BE II jenen von BE III auf; der b-Reim der unikal überlieferten Strophe B V greift den c-Reim von B III auf. Ferner beginnen alle Strophen (mit Ausnahme der unikal überlieferten Strophe E V) mit einer Form von ich (in B I / P1 I nach vorgeschaltetem Als/Alse).
In S ist das Schema leicht abgewandelt: Der zweite und vierte Vers sind vierhebig mit Auftakt. Eventuell hat Vers 8 eine Hebung weniger.
Inhalt: Minneklage.
(Die Strophennummerierung im Folgenden bezieht sich auf B.)
Der Sprecher beklagt sein jetziges Leid, das er im Minnedienst ertragen muss, und wendet sich gegen die Minnegegner, die verhindern, dass er seine Geliebte sehen kann (vgl. Str. I).
Kein glücklicher Mann beneidet das Ich; weder Freude noch Trost gewährt ihm seine Dame, seinen muͦt (B II,4, sein hertze E) erhöht nur der Dienst selbst (vgl. Str. II).
Hat sich das Ich in den ersten beiden Strophen von den anderen abgegrenzt, von den Aufpassern und von den Glücklichen, inszeniert sich der Sprecher jetzt als Teil einer existenziellen Gemeinschaft der Leidenden: Keiner lebt, der nicht solch ein Leid erdulden muss, das ihn vor allem anderen Leid quält. Anstatt das Leid abzulehnen, nimmt er es an, denn die arebait (B III,3) bedeutet gleichzeitig auch Freude und Ehre. So will er seiner Dame weiter dienen und hofft auf göttliche Hilfe (vgl. Str. III).
Die vierte Strophe zeigt das Ich wieder in Abgrenzung zur Gesellschaft: Die Dame mag ihn zurückweisen oder erhören, wichtig ist dem Sprecher jedoch vor allem, dass sie sich keinem anderen hingibt: schade unde frome si min (B IV,9).
Die folgenden beiden Strophen sind in B unikal: In Gedanken war das Ich oft glücklich. Das ›schöne Liegen‹ im zweiten Vers der fünften Strophe ist erotisch konnotiert, als Gedankenspiel bricht es jedoch nicht mit dem höfischen Verhaltencode (vgl. dazu auch Kellner, S. 259). So weist das Ich die Neider zurück: Es lebt in hohem muͦte (B V, 8) und so sollen auch andere minnen (vgl. Str. V).
In der nächsten Strophe vergleicht sich das Ich mit einem Falken, der zur Verkörperung seines hinaufstrebenden muotes wird. Von dieser Gleichsetzung ausgehend, verschiebt sich die Perspektive: Der Falke fliegt über dem Ich, begehrt etwas Unerreichbares und fliegt schließlich von dem Ich davon. So wird die topische Verbindung von Minne und Jagd aufgerufen, gleichzeitig der muot als eine eigendynamische Instanz bildlich vom Ich gelöst. Damit steht der Falke für einen erfolglosen (Minne-)Jäger, zugleich ist er als Verkörperung des muotes selbst eine vom Ich nicht beherrschbare Instanz (vgl. Str. VI). Zum Falken bei Reinmar vgl. auch B Reinm 17 / C Reinm 25.
In der Zusatzstrophe in E (E Reinm 5) rechtfertigt sich das Ich, beim Anblick der Dame etwas nicht verschwiegen zu haben (vielleicht eine Anspielung auf eine zu direkte Werbung?), und beklagt die Erfolglosigkeit seines Dienstes.
Mit P1 III (B / E III) endet das Lied im Berner Hausbuch hoffnungsvoller: Vielleicht bewirkt Gott doch noch ein Wunder, sodass die Geliebte den Sprecher erhört.
Sandra Hofert