Autor
Der Name der wilde alexander (Korpustitel C, fol. 412v; ähnlich W, fol. 44v: daz ist des wildyn allexandyrs leich) bzw. Meister alexander (Korpustitel J, fol. 21v) hat außerhalb der Lyrikhandschriften CJW keine Spuren hinterlassen. Die auffallend abstrakte Miniatur in C zeigt ihn in rotem Gewand – ungewappnet und schmucklos – auf einem Pferd galoppierend, die linke Hand und das Haupt zum Gruß nach oben erhoben, wo hinter stilisierten Zinnen drei Damen (?) stehen, von denen die mittlere eine Harfe schlägt. Ein Wappen gibt es nicht, wie auch sonst jeder Hinweis auf die reale Existenz dieses Alexander fehlt. Die Titulierung ›Meister‹ in J könnte auf die gelehrte lateinisch-theologische Bildung hinweisen, die die unter seinem Namen erhaltenen Texte verraten; das Epitheton wilde wurde entweder als ›unstet, schweifend‹ gedeutet – also als Hinweis auf eine Fahrendenexistenz, für die sich auch einige Sprüche des Wilden Alexander mit einschlägiger Thematik (Hofschelte, milte) anführen ließen – oder als ›fremdartig, seltsam‹, was eventuell eine stilistische oder poetologische Aussage implizierte.
Nach Ausweis der Sprache (Reimgrammatik) war der Wilde Alexander ein Alemanne. Ob die Erwähnung des Ortes Burgau (zwischen Augsburg und Ulm) in J WAlex 27 einen Rückschluss auf sein Leben zulässt, ist heute nicht mehr zweifelsfrei zu sagen. Auch die Datierung ist schwierig: Je nach Deutung der Spruchstrophe J WAlex 7, die auf zeitgenössische politische Ereignisse anspielen dürfte (siehe den dortigen Kommentar), setzt man ihn ins mittlere oder ins spätere 13. Jahrhundert (terminus post quem).
Eine Rezeption des Wilden Alexander ist außerhalb der Lyrikhandschriften nicht nachweisbar, auch die Meistersinger haben ihn offenbar nicht wahrgenommen, obgleich er als ein früher Vorreiter der Bar-Bildung gelten kann.
Überlieferung
Gemessen am Stellenwert, der dem Wilden Alexander innerhalb der Lyrik des 13. Jahrhunderts heute zugemessen wird, ist sein Œuvre ein schmales. J überliefert fol. 21v–28r unter seinem Namen ein Weihnachtslied, 24 Strophen im einzigen Spruchton des Wilden Alexander, drei Lieder – darunter nur ein Minnelied, und auch dies generisch unkonventionell – sowie einen Minneleich. Dieser ist auch in CW erhalten, wo er das Autorkorpus jeweils eröffnet. In C (Korpus fol. 412r–413r) folgen darauf zwei Lieder, von denen eines – ein verblüffend unproblematisches Minnelied – nur hier überliefert ist, sowie drei Spruchstrophen, die auch J hat. W (Korpus fol. 44v–49r) bietet nach dem Leich nur noch ein einziges weiteres Lied, das auch in CJ erhalten ist. Dieses Lied und der Leich sind damit die einzigen dreifach überlieferten Texte des Wilden Alexander. Als Streuüberlieferung findet sich eine der Spruchstrophen (J WAlex 14) in Handschrift N.
Mit Ausnahme dieser späten Einzelstrophe ist die Überlieferung nicht nur relativ kompakt, sondern auch erstaunlich konstant: Abweichungen zwischen CJ sind selten und bilden kaum je eigene Fassungen aus, W scheint insgesamt nachlässiger geschrieben, aber ohne erkennbaren eigenen Gestaltungswillen.
Eine Besonderheit stellt die reiche Musiküberlieferung dar, die wohl weniger dem Autor und mehr der Tatsache geschuldet ist, dass seine Texte überwiegend in Melodiehandschriften (JW) Eingang gefunden haben. W bietet Melodien zum Leich und zum einzigen dortigen Lied, J hat Melodien zum Spruchton, zu den drei darauf folgenden Liedern (zum ersten allerdings nur unvollständig) sowie zum Leich; nur das Notensystem zum einleitenden Weihnachtslied ist leer geblieben. Konsequenz ist die in der Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik eher seltene Situation, dass uns zwei Melodien (nämlich jene zum Leich und zum dreifach überlieferten Lied) in zwei verschiedenen Fassungen greifbar sind.
Werk
Die Texte des Wilden Alexander gehören zu den originellsten und vielseitigsten lyrischen Entwürfen des 13. Jahrhunderts, und dies in mehrfacher Hinsicht. Formal scheint der Wilde Alexander mit dem Inventar der Lyrik des 12. und früheren 13. Jahrhunderts – und zwar mutmaßlich nicht nur der deutschen, sondern auch der lateinischen – zu experimentieren. Er variiert die Kanzonenstrophe (C WAlex 7–11), entwirft ausgefallene Strophenformen (J WAlex 1–3 und 30–36 sowie der doppelt symmetrisch gebaute Spruchton), pflegt einen spielerischen Umgang mit Reimen (z. B. J WAlex 19 mit ausschließlich äquivoken Reimen) oder vermischt die Strophentektonik von Lied, Spruch und Leich (J WAlex 28f.).
Niemals aber geraten diese formalen Experimente zum reinen Selbstzweck. Sie scheinen kalkuliert gesetzt und korrespondieren in der Regel mit der inhaltlichen Konzeption der Texte, sei es, dass semantisch auffällig ausgedünnte Texte mit besonders kühnen Formspielen einhergehen (z. B. C WAlex 7–11, J WAlex 19), sei es, dass formal heterogene Entwürfe inhaltliche Disparität spiegeln (J WAlex 28f.). Dies gilt nicht minder für die formale Mikrostruktur, wo Tonbeugungen mitunter gezielt inhaltliche Irritationen markieren (J WAlex 37–41) oder Reimresponsionen Kohäsion sichern (C WAlex 7–11, J WAlex 37–41) bzw. stiften (bei Kombinationen von Spruchstrophen, z. B. J WAlex 15f., 17f., 20–24). Auch die Melodien sind eng auf die Texte abgestimmt und reichen von stark melismatischen Entwürfen (z. B. der Spruchton) bis hin zu schlichteren, eher monotonen Kompositionen (vor allem der Leich).
Die Sprüche des Wilden Alexander, auch dies eine Besonderheit im Kontext der Lyrik des 13. Jahrhunderts, sind häufig formal und/oder inhaltlich-thematisch zu größeren Einheiten gebündelt, die im Extremfall bis zu fünf Strophen umfassen können (die Antichrist-Strophen J WAlex 20–24), wobei der Zusammenhalt dieser Einheiten von verschiedener Festigkeit sein kann (vergleichsweise lose etwa die huote-Strophen J WAlex 13f. und 25f.).
Schon aus dieser formalen Charakteristik des Wilden Alexander erhellt, dass er generische Strukturen weit überdehnt, z. T. auch vollends sprengt (wie etwa in der Kombination aus religiösem Mahnruf und Minneklage, J WAlex 28f., oder im berühmten ›Kindheits‑‹ oder ›Erdbeerlied‹, J WAlex 30–36, das religiöse Allegorese und einprägsame Sinnlichkeit kurzschließt) oder ganz neu definiert (das Weihnachtslied J WAlex 1–3 ist das erste der deutschen Literaturgeschichte). Diese Tendenz bestätigt sich beim näheren Zusehen für fast alle unter seinem Namen erhaltenen Texte. Zwar lassen sich der Minneleich, die Strophen des Spruchtons (mit religiösen, politischen, moralischen, Liebes- und Fahrendenbelangen) oder auch zwei der Lieder (mit Minnethematik) in bestehenden generischen Rastern verorten. Sie bewegen sich aber kaum je in konventionellen Bahnen. Herausgehoben sei etwa das Pointenspiel um Frau Minne und Frau Welt J WAlex 10–12, das völlig unparadoxe, von aller Rollentypik entlastete, traktatartig-nüchterne Minnelied J WAlex 37–41, die sozialhistorische Situierung der Lohnforderung Fahrender J WAlex 15f. oder das Changieren der formalen und der inhaltlichen Ordnungsraster im Leich sowie dessen enigmatische Schlusswendung.
Zu dieser formalen und thematischen Idiomatik tritt eine dezidierte Vorliebe für Rätselhaftes, seien dies konkrete Rätsel, chiffrierte Aussagen, schwierige Gleichnisse oder dunkle allegorische Bilderwelten (z. B. C WAlex 12–14 et al., J WAlex 7–8, 17f., 19, 28f., die allegorische Mittelpartie des Leichs). Manches Mal münden diese Rätselstrukturen in Pointen, manchmal werden die Schlüssel im Anschluss (z. B. in Folgestrophen) mitgeliefert, nicht selten auch sind sie uns heute verloren. Einen Sonderfall stellt das ›Kindheits‑‹ oder ›Erdbeerlied‹ dar, dessen allegorische und exegetische Komplexität zumindest seine modernen Leser anhaltend fasziniert.
Inwieweit die innovative Originalität des Wilden Alexander dem Einfluss der lateinischen Literaturtradition geschuldet ist, stellt – trotz einiger Vorarbeiten (siehe bes. die Kommentare zu J WAlex 1–3 oder 37–41) – ein Desiderat der Forschung dar. Die klar fassbaren intertextuellen Berührungen mit der deutschen Literatur beschränken sich auf zwei Similien zu Texten des Brennenbergers (in C WAlex 7–11) bzw. Heinrichs von Breslau (in J WAlex 37–41) sowie auf die Spruchstrophe J WAlex 27, die mit Anspielungen auf den ›Wigalois‹ Wirnts von Grafenberg und auf die historische Dietrichsage argumentiert.
Ob sich das Epitheton wilde (vgl. auch die wilde rede in J WAlex 22) – wie oben angedeutet – mit der Extravaganz von Alexanders Œuvre verbinden und mithin als stilistischer Marker verstehen lässt, was zumindest aus moderner Perspektive verlockend scheint, ist eine offene Frage.
Florian Kragl