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Reinmar, ›Ein wiser man sol niht ze vil‹ (A 19 20 21) Lied vorDruckerTEI Icon

Kommentar

Überlieferung: E überliefert im Reinmar-Korpus ein sechs­stro­phiges Lied. Ein drei­stro­phiges Lied präsentieren dagegen A und B: In A stehen Parallelüberlieferungen zu E I, III, II unter Reinmar, in B finden sich Parallelüberlieferungen zu E VI, I, II in dem ursprünglich namenlosen Abschnitt der Reinmar-Sammlung (s. Korpuskommentar zu B). C überliefert unter Reinmar dieselben drei Strophen wie B, ergänzt um eine Parallelüberlieferung zu E III et al. an zweiter Stelle. Parallelüberlieferungen zu E V und IV finden sich ferner etwas später im C Reinmar-Korpus (C Reinm 60 61). Die Handschrift präsentiert jene als Abschluss eines sechs­stro­phigen Liedzusammenhangs (C Reinm 56–61, siehe sekundäre Lied­ein­heit), formal-metrisch fügen sie sich jedoch eher in den vorliegenden Überlieferungszusammenhang E Reinm 114–119 et al. ein.

Eine Parallelüberlieferung zu E III et al. steht ferner als anonyme Einzelstrophe in I sowie I1.

Zudem sind die Strophen in E (E Reinm 114–119) durch die variierenden Initialengrößen sowie die Nennung des Dichternamens vor E Reim 114 mit E Reinm 120–122 zusammengefasst (siehe sekundäre Lied­ein­heit).

Die Reihenfolge der Strophen variiert im Handschriftenvergleich. Hausmann hebt die beiden Strophen C Reinm 47f. et al. als »stabilstes Element« (S. 120) hervor: In (A)BCE folgt die zweite Strophe dieses Paares auf die erste; in E eröffnet das Strophenpaar das Lied, in BC steht es am Ende, in A eröffnet die erste Strophe das Lied, die zweite beschließt es, dazwischen ist A Reinm 20 eingefügt.

Strophenzusammengehörigkeit und Reihenfolge wurden in den bisherigen Editionen unterschiedlich gesetzt (eine Übersicht geben MF/MT im Apparat). Rupp sieht in den vier Handschriften ABCE sechs verschiedene Fassungen überliefert: »eine in A mit 3 Strophen, eine in b [B] mit 3 Strophen, in C eine mit 4, eine mit 2 [C Reinm 60 61] und eine mit 6 Strophen, eine in E mit 6 Strophen. [...] Es ist wie bei einem Baukasten: jedes Baukastenelement ist eine geschlossene Einheit für sich [...]. Gedankliche Brücken zwischen einzelnen Elementen, hier den Strophen, sind immer herzustellen« (S. 92). Hübner, S. 151–160, leitet aus den unterschiedlichen Strophenzusammenstellungen und Textvarianten verschiedene Sprecherrollen ab, vermutet in B ein Frauenlied, in C einen Wechsel.

Zum möglichen altfranzösischen Einfluss vgl. Schultz. Frank, S. 120–125, sieht eine Verbindung zu Bien cuidai toute ma vie des Gace Brulé (vgl. dazu auch Zotz, S. 145f.).

Form: .4a .5b / .4a .5b // 7c .7c .4d .4x .5d

Es liegen neunversige Stollen­stro­phen vor; die Auftakte können entfallen. Bereits Schweikle, S. 345f., hebt die Schwankungen in der Strophenfüllung hervor: Die Vierheber (V. 1, 3, 7, 8) sind relativ einheitlich; bei den anderen Versen variieren die Hebungszahlen bei alternierender Lesung teilweise um bis zu drei Hebungen, so zeigt sich etwa der letzte Vers in B II et al. vierhebig, in B III et al., C V und VI et al. fünfhebig, in BC I, C II et al. sechshebig. Besonders markant sind die Differenzen innerhalb des Aufgesanges: Der zweite Vers scheint eher fünfhebig angelegt zu sein (mit Ausnahme von B II et al. – die Ausgaben tilgen hier i. d. R. die ersten beiden Wörter des Verses und stellen so Fünfhebigkeit her), der vierte ließe sich in einigen Fällen sechshebig realisieren (mit Ausnahme von E).

Abweichende Versfüllungen im Überlieferungsvergleich zeigen sich darüber hinaus besonders in E. So tendieren die ersten beiden Langverse des Abgesangs hier stärker auseinander: In E I sind sowohl V. 5 als auch 6 unterfüllt; in E IIIf. sind die sechsten Verse überfüllt, in E Vf. sind V. 5 unterfüllt, V. 6 dagegen überfüllt. Diese Beobachtungen zeigen, dass insbesondere E stärkere Schwankungen in der Versfüllung zulässt, wodurch auch die Zusammenstellung mit den achtversigen Strophen E Reinm 120–122 zu erklären sein könnte: Würde man den achten Vers, die Waise, in E Reinm 114–119 nicht absetzen, würden sich zwar immer noch die Hebungszahlen erheblich unterscheiden, doch hätten alle neun in E zusammengefassten Strophen (s. sekundäre Lied­ein­heit) das gleiche Reimschema (mit Ausnahme eines Kadenz­wechsels im c-Reim).

Inhalt: Minneklage.

A und E eröffnen mit einer gnomischen Strophe: In der Rolle eines Ratgebers unterweist der Sprecher sein Publikum, die eigene Frau weder auf die Probe zu stellen noch sie zu beschuldigen, wenn sie keine Schuld trägt. Üble Nachrede ist zu meiden. Gleichzeitig zeigen sich in der Strophe fatalistische Züge: Niemand kann hinter den Lug und Trug der Welt kommen, niemand soll nach dem fragen, was er nicht hören möchte: ein »Plädoyer für eine Welt der Vorstellung, des idealen Scheins, welche der unvollkommenen Wirklichkeit vorgezogen wird« (Kasten, S. 838)?

In A folgt eine Minneklage, in der sich der Sprecher ausdrücklich vom in Str. I geäußerten Vorwurf freispricht, seine Geliebte durch seine Werbung auf die Probe stellen zu wollen, und doch beschuldigt er sie, Ursache seines Leidens zu sein. In BCE schließt sich dagegen eine Strophe an, die auf das Gerede anderer verweist: Sie sagen, dass die Beständigkeit die Herrin aller Tugenden sei, was der Sprecher als Teil der in der vorangehenden Strophe angesprochenen Lügenhaftigkeit der Welt beklagt: Er wirft seiner Dame ihre Beständigkeit in höfischer Sittsamkeit vor. Sie zu loben, wäre eine Lüge, sodass er sich von ihrem Lob losspricht.

In E folgt als dritte Strophe die in A zweite, sodass die Vorwürfe, die der Sprecher gegenüber seiner Dame äußert, hier als Vollzug seiner Lobabsage erscheinen. Besonders markant wirkt in Verbindung mit der in E vorangegangenen Strophe die Beteuerung des Sprechers, er habe immer von Herzen aufrichtig zu ihr gesprochen: Die Grenze zwischen Lüge und Wahrheit wird im Lied zwar immer wieder proklamiert, im Zusammenspiel der Strophen erweist sie sich aber als ambivalent und mit ihr der Status von Lob und Klage. Wo die Strophe als Einzelstrophe erscheint (I bzw. I1), kommen diese Deutungsebenen weniger zum Tragen.

Genau diese Absage an ein Entweder-oder macht die in E folgende Strophe explizit und formuliert damit einen Kern des Hohe-Minne-Konzepts: Leid und Freude sind miteinander verbunden. Mit angemessener Klage muss das eine um des andern willen erlitten werden. Zentral sind Geduld und Hoffnung.

Doch mit diesem minnedidaktischen Fazit ist die E-Fassung noch nicht beendet, sondern es schließen sich noch zwei weitere Strophen an. Zunächst fordert der Sprecher als meister (E V,2) in der Minne und der Kunst Lob ein, denn keiner erträgt so schön wie er das Leid – in Anbetracht der in E I beklagten Lügenhaftigkeit der Welt eine zwiespältige Forderung.

Diese beiden Strophen, in umgekehrter Reihenfolge, sind in C wohl irrtümlich (vgl. Hausmann, S. 44) an das Ende von C Reinm 55–59 angefügt worden: Der Dichter inszeniert sich als meister der Kunst und führt dann vor, worin diese Meisterschaft besteht.

E VI ruft schließlich zwei Wege auf: den wohlbekannten von der Freude zum Leid, den noch ungebahnten vom Leid zur Freude. Dies ist eher das Bild eines Weges mit zwei Richtungen und wird im Folgenden in eine Gleichzeitigkeit von Innen und Außen überführt: Gedanken führen zu Leid, äußerlich lässt sich der Sprecher das aber nicht anmerken. Die Minne soll verflucht sein, wenn sie nur Unglück bringt – man könnte ergänzen: Freude und Leid gehören genauso zusammen wie Minneklage und Preis. Diese Strophe eröffnet die drei- bzw. vier­stro­phigen Fassungen in B und C, sodass dort weniger der gnomische Duktus, sondern stärker das Zusammenspiel von Liebe und Leid in den Blick rückt.

So zeigt sich, dass die Strophen in sich relativ geschlossene Sinneinheiten bilden, wodurch unterschiedliche Reihungen möglich werden; gleichzeitig sind übergreifende Bezüge erkennbar, wie die enge Verbindung von Liebe und Leid sowie die Frage nach der Aufrichtigkeit des Sagens und Singens. Dies ist auch ein Thema, das die beiden Gruppen des Überlieferungsverbundes miteinander teilen.

Sandra Hofert

Kommentar veröffentlicht am 03.02.2025; zuletzt geändert am 04.02.2025.
Gehört zur Anthologie: Minne- bzw. Werbelied
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Kleine Heidelberger Liederhandschrift (Heidelberg, UB, cpg 357), fol. 2r
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