Autor
Rudolf von Rotenburg wurde bzw. wird gemeinhin entweder identifiziert mit dem gleichnamigen Mitglied einer Luzerner Ministerialenfamilie, das 1257 urkundet, oder aber – dies die heute üblichere Ansicht – als Angehöriger der Kastvögte des Stifts St. Leodegar in Luzern (Familienzweig Rotenburg-Wolhusen) betrachtet, wozu sowohl das Wappen (siehe unten) als auch die Bezeichnung vogt in B2 passt. Auch die Korpusposition in C (siehe abermals unten) deutet auf einen Schweizer Minnesänger hin. In jedem Fall handelt es sich, nach Ausweis des Dialekts, um einen alemannischen Dichter. Eine Datierung ins frühe 13. Jahrhundert gilt als wahrscheinlich; der von Gliers, ein Dichter vermutlich des ausgehenden 13. Jahrhunderts, führt Rudolf von Rotenburg im Dichterkatalog als verstorben (SMS 8,3,7,10).
Überlieferung
Korpora unter dem Namen Rudolf von Rotenburg (Namensvarianten eingeschlossen) führen AB2C; dazu tritt Parallelüberlieferung unter anderen Dichternamen in ABCE.
A präsentiert zunächst unter RVDOLF VON ROTENBER drei Lieder bzw. zehn Strophen auf fol. 29r–v sowie wenig später nochmals ein fünfstrophiges Lied unter RVDOLF OFFENBVRG auf fol. 31r; die Namensvarianten beruhen wohl auf simplen Versehen. Nicht minder fehlerhaft ist wohl die Rubrik DER MARCGRAVE VON ROTENBVR: das Kleinstkorpus aus nur einem dreistrophigen Lied auf fol. 36r wird gewöhnlich dem Markgrafen von Hohenburg zugeschlagen. Charakteristisch für die A-Überlieferung ist, wie auch sonst häufig, eine sorglose Lässigkeit, die den Texten nicht wenig Verderbnis einträgt.
C bringt das Rotenburg-Korpus (fol. 54v–59r; Marginalie fol. 54v: vō Rotenburg) in der sechsten Lage im Grundstock-Untersegment B0, worin außerdem der Kürenberger und Dietmar von Aist sowie einige Schweizer Minnesänger, was als Indiz für die Lokalisierung des Dichters gehandelt wird; die unmittelbaren Nachbarn sind Walther von Klingen und Heinrich von Sax. Das Korpus besteht aus sechs Leichen und zehn Liedern mit insgesamt 41 Strophen; Vergleich mit der Parallelüberlieferung in A legt nahe, dass die C-Schreiber die Texte passim metrisch-formal korrigierten und besserten (Henkes-Zin, S. 153).
Die Korpusminiatur in C (fol. 54r; Rubrik: her Růdolf von Rotenburg) zeigt den Sänger (?), wie er, am Fuße einer Burg stehend, einen Kranz entgegennimmt, den ihm eine Dame von den Zinnen reicht. Der Sänger ist als Ritter gezeichnet: mit Schwert, Gürtel, ihm zur linken Seite das Pferd mit Schild und Banner. Das Wappen auf Schild und Banner zeigt beide Male eine rote Burg (!) auf goldenem Grund. Es ist das Wappen derer von Rotenburg-Wolhusen, das freilich dem Wappen der Luzerner Ministerialenfamilie (rote Burg auf silbernem Grund) stark ähnelt.
B2 hat für Rudolf von Rotenburg heute (?) nur noch eine Seite (fol. 3v) mit fünf Strophen in drei Tönen. Die vorstehende (fol. 3r) Miniatur – Titel: Der vogt von Rotenburch – zeigt als Entwurfszeichnung eine Gesprächsszene zwischen Dame und Ritter und/oder Sänger, die links und rechts eines Baumes stehen. Über den Figuren prangen Topfhelm und Schild, das Wappenfeld des Schildes ist leer.
Sämtliche Strophen der beiden A-Korpora finden sich auch in C, eine davon (die erste) auch in B2; dort ist es die fünfte und letzte im Rotenburg-Korpus. Die ersten vier Rotenburg-Strophen in B2 haben reiche Parallelüberlieferung unter anderen Dichternamen in ABCE (Friedrich von Hausen, Reinmar, Rugge). Auffällig ist die Parallelität im Textbestand zwischen B2 Rotenb und B Hausen, pag. 12.
Im Übrigen ist die Zuschreibungsvarianz durch Parallelüberlieferung gering: C Rotenb 24–28 ist außerdem unter Neidhart, zweimal unter Walther und einmal anonym (in U) erhalten, C Rotenb 16–18 bieten B unter Friedrich von Hausen und C ein weiteres Mal unter dem Markgrafen von Hohenburg. Leich IV (C Rotenb 4) und das fünfstrophige Lied C Rotenb 43–47 führen AC außerdem unter Niune, und zwar als ersten bzw. dritten Text des Niune-Korpus.
Werk
Mit sechs Leichen ist Rudolf von Rotenburg einer der produktivsten deutschen Leich-Dichter, auch wenn die Zuschreibung von Leich VI (C Rotenb 6) – nach fünf Minneleichen der einzige geistliche: ein Marienleich – strittig ist. Ins Auge sticht auch die schiere Länge von Leich V (C Rotenb 5), die die ältere Forschung durch die Annahme von Interpolationen erklärt. Leich I und II (C Rotenb 1 und 2) sind formal fast identisch, auch Leich VI bedient sich des Schemas und bietet gewissermaßen eine geistliche Kontrafaktur, dies aber ohne inhaltliche Korrespondenzen im Detail. Auch Leich III (C Rotenb 3) ist diesen drei Leichen seinem Aufbau nach eng verwandt, alle vier rechnen sie nach Kuhn zum Estampie-Typ, während Leich IV (C Rotenb 4) den Sequenz-Typ (in einfachem Kursus) repräsentiert. Leich V ist Unikat insofern, als er sich – wenn man ihn nicht durch die Herausnahme der ›Interpolationen‹ zurechtstutzt – als kühnes Spiel mit Bauprinzipien der Leichdichtung verstehen lässt. Diese auch in den übrigen Leichen erkennbare Artifizialität der architektonischen Gestaltung steht in seltsamem Widerspruch zur Sorglosigkeit der Formgebung im Detail; die Reime leiden unter einer gewissen Armut der Reimwörter, die Metrik der Verse ist nicht selten holprig (vgl. Apfelböck, S. 116 zur »variablen Metrik«). Inhaltlich und argumentativ kommen die Leiche kaum je über Gemeinplätze hinaus; charakteristisch sind die nicht seltenen literarischen Anspielungen in den Minneleichen, die eine Vertrautheit mit der mittelhochdeutschen, vielleicht auch mit der altfranzösischen Romanliteratur suggerieren.
Die Lieder des Rotenburgers sind durch und durch konventionell, sie lassen sich fassen unter dem Motto eines »unbekümmerten Fortkomponierens und -dichtens« (Ranawake, Sp. 368) nach Heinrich von Morungen, Reinmar und Walther von der Vogelweide. Der klare, nicht immer nur blockhafte Argumentationsgang der Lieder kann nicht über die Schlichtheit der Gedankenfolgen hinwegtäuschen, es dominieren typische Themen der Hohen Minne wie Treue, Dienst, Frauenpreis, Authentizität (nämlich des Preises und besonders der Werbung), Kritik der ›falschen‹ Minne etc. Auffällig ist eine relative Häufung von Anredeliedern oder direkten Adressen (C Rotenb 10–12 et al., C Rotenb 19–23, C Rotenb 43–47). Auch in formaler Hinsicht sind die Lieder wenig charakteristisch. C Rotenb 33–37 und C Rotenb 43–47 bieten Stollenreprisen, C Rotenb 38–42 ist eine Gespaltene Weise. Einzig das auch unter Neidhart und zweimal unter Walther überlieferte Lied C Rotenb 24–28 et al. sticht thematisch und formal heraus: Es thematisiert in atypischer Strophenform die Trennung des Sängers von der Geliebten (Pilgerbericht, Boten).
Florian Kragl